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Archiv-Artikel

Schwung ins Ordinäre

KIEZ-HYPE Vom „Feuchten Eck“ zum Biotronik-Herzschrittmacher: Alles echt Neukölln. Süffige Heimatkunde mit den Rixdofer Perlen im Saalbau Neukölln

Ein Überraschungsdöner voller Pointen. Dazu gibt es klebrig-süße Schnäpse

VON MARGARETE STOKOWSKI

Wenn der Schwabe kommt, werden sie sich verstecken. Irgendwo im Körnerpark werden sie sich ganz klein machen und ein paar Schnäpse trinken, bis der ganze verdammte Hype vorbei ist. Die Rixdorfer Perlen haben schon einiges verstanden von der Gentrifizierungsscheiße. „Schuss mit lustig“ heißt das neue Programm der drei Rixdorfer Perlen im Neuköllner Heimathafen.

Schuss, nicht Schluss. Denn Jule (Inka Löwendorf), Mieze (Johanna Morsch) und Marianne (Britta Steffenhagen) schießen auf alles, was ihnen in die Quere kommt: auf ihren Bürgermeister Heinz Buschkowsky, weil er immer dasselbe Hemd trägt, auf die Leute in den Dachgeschosswohnungen, weil sie die alteingesessenen Neuköllner Kneipen verklagen, und auf ihre Klavierbegleitung Olaf (Felix Raffel), weil er ein unterforderter Praktikant ist und fragt, ob der Schnaps auch laktosefrei ist. Der Schnaps hat den drei Perlen sowieso den ganzen Mist eingebrockt: Kneipenwirtin Marianne hat in ihrem „Feuchten Eck“ einen Schwaben kennen gelernt. Vor lauter Mitleid und Promille hat sie ihm versprochen, mit Jule und Mieze den historischen Teil seines Neukölln-Reiseführers zu schreiben. Also geht die Recherche los.

Was ist so richtig typisch neuköllnmäßig? Gemeinsam wühlen sich die drei Miezen auf Stöckelschuhen durch einen Theaterfundus und kramen dabei alles Mögliche und Unmögliche aus der Berliner Geschichte hervor: „Kieke ma ditte!“ Da findet sich ein Bild vom alten Karstadt-Dachgarten, ein Stück buntes Linoleum, ein Biotronik-Herzschrittmacher. Ja, ja: alles echt aus Neukölln.

Schon klar, dass die drei Perlen damit den Neukölln-Hype fördern. Aber Angst vor der Gentrifizierung haben die Rixdorfer Perlen trotzdem nicht. Einerseits wird in Neukölln der Hype bestimmt sowieso nicht so schlimm werden wie in Kreuzberg oder Prenzlauer Berg: Wer soll denn die ganzen besoffenen Ur-NeuköllnerInnen aus ihren Wohnungen tragen? Geht gar nicht. Und andererseits lassen sich gewisse Entwicklungen ja auch nutzen. Mieze ist dann keine Putzfrau mehr, sondern Raumpflege-Managerin. Und Jule ist eh nicht so gerne Nutte, sondern betrachtet sich lieber als Soziologin, Physiotherapeutin und Eheberaterin.

Unter der Regie von Julia von Schacky schmettern die Perlen alte Berliner Gassenhauer durch den historischen Saal im Saalbau Neukölln – mit gewaltigen Stimmen und meisterhafter Klavierbegleitung: „Ich hab nu mal den Schwung ins Ordinäre! Ick bin die richtige Berliner Beere!“ So wird heimatliches Liedgut von Kurt Tucholsky, Claire Waldoff und Paul Lincke mit Federboas, Geschichten von der Rütli-Schule und einer 80er-Jahre-Show gemischt. Ein Überraschungsdöner voller Pointen. Dazu gibt es klebrig-süße Schnäpse fürs ganze Publikum und natürlich auch eine standfeste Meinung zu Stuttgart 21 und Sarrazin: „Scheiße reden heißt heute anders, das heißt ja jetzt polarisieren.“ Hauptsache konsequent oder wie Kneipenfrau Marianne sagt: „Wenn wir wat schlecht machen, dann aber richtig.“ Und wenn se wat jut machen, dann halt ooch.

■ Heimathafen Neukölln, 31. Oktober, 5., 6., 24., 27., 28. November, 20 Uhr, Karten 12 bis 20 Euro