Überragendes Talent

COMIC Jacques Brel, Swingerclub oder Religion – der französische Zeichner Bastien Vivès und sein neuestes Werk „Die Liebe“

Bastien Vivès nimmt gerne eine Alltagssituation und spitzt sie so zu, dass sie einerseits zum Lachen reizt, andererseits eine tiefere Wahrheit deutlich macht

VON CHRISTOPH HAAS

Muss er auch einmal Atem schöpfen? Oder will er einfach nie weg vom Zeichentisch? Mit gerade 30 Jahren kann der französische Zeichner Bastien Vivès schon auf ein üppiges Oeuvre verweisen: Seit 2008 veröffentlicht er jedes Jahr, sei es mit oder ohne Unterstützung eines Szenaristen, gleich mehrere Alben.

Die Sujets sind unterschiedlich, die Zeichenstile auch, die Qualität der Arbeiten aber ist durchweg hoch bis überragend – egal ob Vivès zarte, poetische Liebes- und Coming-of-Age-Geschichten erzählt („Der Geschmack von Chlor“, „Polina“), Bikini-Mädchen durch einen Action-Thriller hetzt („Die große Odaliske“) oder den Geschlechterkampf zwischen Männern und Frauen in eine Fabelantike verlegt („Für das Imperium“).

Junge Frau trifft jungen Mann

Der jüngste von Vivès auf Deutsch erschienene Band heißt nun schlicht „Die Liebe“. Da erhält etwa eine junge Frau von dem jungen Mann, mit dem sie sich in einem Café verabredet hat, einen umfangreichen Fragebogen in die Hand gedrückt. Welchen Film hat sie zuletzt im Kino gesehen? Hat er ihr gefallen und wenn ja, warum? Was hält sie von der Musik Jacques Brels? Alles Dinge, die man wissen muss, sonst lohnt es sich ja gar nicht, eventuell eine Beziehung ins Auge zu fassen!

In anderen Szenen geht es um ein Ehepaar, das mit dem Gedanken spielt, einen Swingerclub aufzusuchen, oder um ein Kind, das seine atheistischen Eltern plötzlich mit dem Wunsch überrascht, eine Religion zu haben, so wie alle seine Freunde auf der Schule.

Geschichten gibt es in „Die Liebe“ eigentlich keine, eher werden signifikante Momente geschildert. Das Muster, nach dem sie ablaufen, ist stets dasselbe: Vivès nimmt eine Alltagssituation und spitzt sie so zu, dass sie einerseits zum Lachen reizt, andererseits eine tiefere Wahrheit deutlich macht.

Das funktioniert sehr gut, auch und gerade da, wo das Geschehen nicht in eine Pointe mündet, sondern Fragen offen lässt und für Irritation des Lesers sorgt. Dennoch ist ein Vorbehalt anzumelden: Der Stil, den Vivès gewählt hat, will zu dem, was er erzählt, diesmal nicht perfekt passen.

Das ist insofern interessant, als hier Grundsätzliches über das Verhältnis von Bildern und Inhalten zu erfahren ist. Mit Zeichnungen im Funny- oder Semifunnystil ist es ja durchaus möglich, nicht ausschließlich von Lustigem zu erzählen – man denke nur an Émile Bravos brillantes Spirou-Album „Porträt eines Helden als junger Tor“ oder an Volker Reiches „Kiesgrubennacht“. Die ernsten oder tragischen Gegenstände fügen den nicht realistischen Bildern in diesen Fällen etwas hinzu; sie verleihen ihnen, gerade durch den Kontrast, etwas Ergreifendes.

Schwieriger ist es im umgekehrten Fall. Wenn ein Comic, der keine Parodie sein will, nur in inhaltlicher, nicht in zeichnerischer Hinsicht mit komischen Übertreibungen und Verzerrungen arbeitet, ergibt sich kein fruchtbarer Gegensatz, sondern eher eine wechselseitige Hemmung. So ist es in „Die Liebe“: Hier stehen Witz und Ernst einander fremd gegenüber.

Davon abgesehen sind bloß für sich genommen die Bilder überaus gelungen. Sie sind elegant und lässig, mit dem Tuschepinsel hingeschlenzt und -getupft. Gesichter skizziert Vivès, wenn überhaupt, nur minimal. Um die Emotionen seiner Figuren zu vermitteln, genügen ihm kleine gestische Signale: das plötzliche Senken oder Zurückwerfen eines Kopfes; Hände, die sich vor einem Gesicht falten. An Vivès’ überragendem Talent gibt es keinen Zweifel – es hat sich in „Die Liebe“ nur nicht ganz so rein verwirklicht, wie man es sonst von ihm gewöhnt ist.

■ Bastien Vivès: „Die Liebe“. Aus dem Französischen von Mireille Onon. Reprodukt Verlag, Berlin 2014. 190 Seiten, 12 Euro