: Exhibitionismus des Glaubens
Die öffentliche Inszenierung des eigenen Glaubens zeugt nicht von einem Revival der Religion. Im Gegenteil: Sie ist meist mit zutiefst säkularen Interessen verbunden
Fotoreportagen vom Dalai Lama, Verfilmung der Passion Jesu, ein US-Präsident, der behauptet, seine politischen Aufträge von Christus zu erhalten, oder muslimische Proteste gegen eine Papstrede – spricht die Präsenz solcher Themen in den Massenmedien für ein Wiedererstarken der Religionen? Haben wir es gar mit einem religiös motivierten „Kampf der Kulturen“ zu tun?
Tatsächlich sind es nicht die Religionen selbst, die in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung rücken, sondern Einzelpersonen oder Menschengruppen, die sich in extremer Form zu ihrer Religion bekennen. Diese öffentliche Demonstration der jeweiligen Glaubenszugehörigkeit erfüllt jedoch andere Zwecke als traditionelle, nach außen gerichtete religiöse Handlungen. Deren Riten beziehen sich auf keinen Zuschauer und zeichnen sich durch unindividuelle Formen aus: Die Prozession, der Gang nach Mekka oder die Abendmahlsfeier sind nicht auf die Einzigartigkeit ihrer Teilnehmer ausgerichtet, sondern der einzelne Gläubige versenkt sich in die Teilhabe an der Gemeinde.
Diese traditionellen Gemeinschaftsrituale genießen nun keineswegs verstärkte Aufmerksamkeit in den Medien. Weder werden – zumindest in den europäischen Fernsehsendern – tagelang Live-Übertragungen aus Mekka gesendet noch haben öffentlich übertragene Kirchenpredigten oder das altbekannte „Wort zum Sonntag“ mehr Zuschauer als früher.
Mediale Aufmerksamkeit weckt allein das „Besondere“, der herausgehobene Einzelne, der vor dem Hintergrund der Religion zum „Event“ wird. In diesem Zusammenhang erscheint – provokant gesprochen – ein Selbstmordattentat ebenso wie das Sichfotografierenlassen vor dem Sarg des toten Papstes von dem gleichen Bedürfnis der Selbstdarstellung motiviert wie der Auftritt in einer Fernseh-Talkshow.
Die öffentliche Darstellung der eigenen Glaubenszugehörigkeit gerät zunehmend in Widerspruch zu den ursprünglichen religiösen Normen. So avanciert der Dalai Lama zu einer Art „Superstar“, obgleich dieses Hervorheben von Individualität den Grundpfeilern des Buddhismus widerspricht. Viele muslimische Selbstmordattentäter werden als Märtyrer gefeiert und erlangen namentliche Bekanntheit, obwohl ihr Sterben dem Namen nach als Abwehrkampf gegen eine Kultur geführt wird, die solchen Individualismus propagiert.
Fundamentalistische Muslime, Protestanten und Katholiken verbindet gemeinsam eine strenge Keuschheitsmoral dem Leib und speziell der Sexualität gegenüber. Im Gegensatz dazu wird in den Formen des modernen Religionsbekenntnisses jede Keuschheit der Seele fahrengelassen. Das medial transportierte Religionsbekenntnis hat sich in eine Zurschaustellung gewandelt, die – auf den physischen Leib übertragen – bis zum Exhibitionismus gehen kann.
Obwohl es verpönt ist, seine körperlichen Reize zur Schau zu stellen, wächst parallel das Bedürfnis, sich als gläubige Seele aggressiv zu entblößen, um nicht übersehen zu werden mit all jenen Reizen, die eine sich ihrer Frömmigkeit bewusste Seele als schön und verführerisch empfindet.
Dieser Vorgang setzt auf die gleiche Wirkung wie das weit ausgeschnittene Dekolleté einer Frau: Es wird die als wohlgeformt empfundene Seelenbrust weitreichend zur öffentlichen Betrachtung entblößt. Der physische Körper mag – man denke an die Burka – vollkommen verborgen sein, das hindert nicht eine diesen Körper zersprengende, geradezu obszöne Form des Glaubensbekenntnisses zum Beispiel muslimischer Selbstmordattentäterinnen.
So dringen die Leitbilder einer von Individualismus und Unterhaltungsindustrie geprägten Gesellschaft auch in jene religiösen Zirkel ein, die dieser Kultur am entferntesten zu stehen scheinen. Dafür hat der Film „Paradise now“ exemplarische Bilder gefunden: In einer Szene betreten zwei Protagonisten eine Videothek im Gaza-Streifen. Neben Spielfilmen lassen sich dort auch Videoaufzeichnungen von Selbstmordattentätern ausleihen. Der Ladeninhaber erzählt, die Ausleihquote für diese Videos liege höher als die „normaler“ Spielfilme.
Der religiös motivierte Märtyrer tritt somit in eine Reihe mit den Hollywood-Filmstars und besetzt eine prototypische „Rolle“ aus US-amerikanischen Actionfilmen: der einzelne Held, der gegen das Böse oder für eine bessere Welt kämpft und zur Identifikationsfigur avanciert. Dass der Akteur schon ein Toter ist, wenn man ihm im eigenen Heimkino zuhört und zuschaut, steigert die bekannte, aber fiktionale Erzählhaltung des amerikanischen Kinos ins grotesk Reale und macht darin erst wahr, was im US-Original zur bloßen Unterhaltung dient. Indem der heldenhafte Kampf des Einzelnen zu einer Realität auf Leben und Tod gesteigert wird, kann das Video vom muslimischen Selbstmordattentäter einen kulturellen „Sieg“ über jeden scheinhaften Spielfilm aus Hollywood erringen.
Videos dieser Art richten sich wie Spielfilme der Unterhaltungsindustrie an ein menschliches Publikum. Ohne das Wissen um den Zuschauer verlören diese „Auftritte“ ihre Bedeutung, denn sie benötigen Zeugenschaft und sind auf ein menschliches Publikum bezogen. Die ursprünglich religiöse Metaphorik vom „Auserwähltsein“ verlagert sich auf die Medienindustrie. Es ist nicht mehr der Gott, der Menschen auserwählt, um seinen Willen durch Propheten oder Märtyrer kundzutun; der einzelne Mensch erwählt sich nun selbst und tritt in dieser Absicht vor die Kamera.
Auch bei der Zusammenkunft der Massen in Westeuropa – sei es zur Trauerfeier des Papstes, sei es zum Weltjugendtag – kommt es zu keinem Akt der religiösen Gemeinschaftsstiftung. Vielmehr empfindet sich der Einzelne gerade anhand der Masse als etwas „Besonderes“ – gespeist aus dem Mediengefühl, „dabei“ gewesen zu sein, als wieder einmal etwas „Außergewöhnliches“ passierte. So lässt sich aus der Zusammenkunft der Gläubigen eben nicht ableiten, dass die Kirche jetzt neuen Zulauf erhält oder dass die religiösen Normen wieder eine stärkere Rolle im alltäglichen Leben spielen werden.
Diese öffentlich inszenierten Glaubensdemonstration sind untrennbar mit säkularen Interessen verknüpft. Die Medienöffentlichkeit führt dem Publikum nicht zuletzt vor Augen, wie „stark“ die jeweilige Glaubensgemeinschaft ist – und zwar als politische Kraft. Das gilt nicht nur für das Christentum und den Islam, sondern gleichfalls für das Judentum.
Aus Israel, wo die politischen Konflikte besonders schwerwiegend sind, kommen uns die medialen Bilder streng orthodoxer Juden entgegen – kaum jemals aus den USA oder anderen Ländern, in denen vitale jüdische Gemeinden existieren. Insoweit dient das öffentlich zelebrierte Religionsbekenntnis fast immer dem politischen Bekenntnis, verbürgt jedoch keinen Zuwachs an Frömmigkeit.
MICHAELA SCHRÖDER