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Archiv-Artikel

Die Explosion der Slums

VON MANFRED KRIENER

Ein gespenstisches Bild: Die Fahrt mit dem Taxi um zwei Uhr morgens vom Flughafen „Chhatrapati Shivaji“ im indischen Mumbai Richtung Süden ins Reichenviertel „Colaba“. Tausende schlafender Obdachloser liegen Kopf an Kopf am Straßenrand auf dem Asphalt. Eine endlose Prozession abgelegter Körper. Menschliches Straßenbegleitgrün, reglos und still. Wenn es regnet, bedecken Plastikfolien und -tüten die Schlafenden, die auch unter geparkten Bussen und Lastwagen Schutz suchen. Zwei Millionen Menschen leben in Mumbai, der größten Stadt Indiens, auf der Straße, 2 von 18,3 Millionen. Mumbai ist nach Tokio, Mexiko-Stadt und New York die viertgrößte Stadt der Welt. Spätestens 2010 wird das frühere Bombay von der Mega- zur „Metacity“ aufsteigen, zu einer von dann vier Städten der Erde mit mehr als 20 Millionen Einwohnern. Schon heute leben in Mumbai mehr Menschen als in Norwegen und Schweden zusammen.

Stadtplaner bemühen immer neue Begriffe und Definitionen für die riesigen Zusammenballungen. „Megacities“ wurden die ersten Metropolen mit mehr als 5 Millionen Einwohnern genannt. Die Grenze wurde schnell auf 8 Millionen verschoben. Inzwischen zählt jede der 20 Megacities der Welt mehr als 10 Millionen Menschen. Eine weitere Steigerung ist die „Hyper“- oder „Metacity“ mit 20 Millionen Einwohnern. Es ist die extreme Form der Verstädterung, eine gigantische urbane Wucherung, die weder zu verwalten noch zu beherrschen ist. Und auch nicht zu zählen: Per Satellit werden die Dimensionen geschätzt – Luftbilder statt Einwohnermeldeamt.

Das beängstigende Hochgeschwindigkeitswachstum der Riesenstädte in den Entwicklungs- und Schwellenländern hat neue Siedlungsstrukturen hervorgebracht, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Finanz- und Machtzentren wie Mumbai mit glitzernden Fassaden, die gleichzeitig riesige Slums beherbergen. Während die traditionellen Industriestädte Europas schrumpfen und veröden, während Weltmetropolen wie London oder Paris im Glanz ihres Reichtums stagnieren, explodieren die Megacities des Südens und Ostens mit rasendem Wachstum. London brauchte noch 130 Jahre, um von 1 Million auf heute 8 Millionen zu wachsen. Die koreanische Megacity Seoul erledigte das in 25 Jahren. Das Jahr 2007 wird einen Wendepunkt markieren. Erstmals in der Geschichte der Menschheit werden dann mehr Menschen in der Stadt als auf dem Land leben. Mitte dieses Jahrhunderts werden die Städte nach Prognosen von UN-Habitat schon 6 Milliarden Menschen beherbergen, zwei Drittel der Erdbevölkerung.

Seit 1950 hat sich die Stadtbevölkerung vervierfacht. New York hat seitdem um 40 Prozent zugelegt, Mumbai um 90 Prozent. Dhaka, die Megacity Bangladeschs, hat ihre Einwohnerzahl seitdem verfünfzigfacht. Mehr als 90 Prozent des Wachstums der Städte wird heute in den Entwicklungs- und Schwellenländern registriert. Unter den Top Ten der größten Städte weltweit stehen schon jetzt mit Tokio (35 Millionen) und New York (18,5 Millionen) nur noch zwei Städte reicher Industrieländer, unter den Top 20 reihen sich noch Los Angeles und Osaka ein. Manila, Dhaka, Kairo, Schanghai, Jakarta, Karatschi, Delhi und Kalkutta heißen die neuen Megacities. Oder Lagos. Die nigerianische 11-Millionen-Stadt steht mit einem jährlichen Wachstum von 5 Prozent an der Spitze.

Wie ein Naturgesetz wird die anhaltende Verstädterung hingenommen. In den Großstädten siedeln sich die zuströmenden Karawanen vor allem in den Armensiedlungen an, den großen Slums. Im Jahr 2005 lebten nach Angaben von UN-Habitat 998 Millionen Menschen in Slums – das ist jeder dritte Stadtbewohner. Bis 2020 werden es 1,4 Milliarden sein. Sie leben in Siedlungen ohne Wasser- und Abwasserversorgung, ohne Bildungssysteme, geordnete Gesundheitsversorgung und sanitäre Einrichtungen, ohne regelmäßige Abfallbeseitigung und ausreichenden Wohnraum. In Mumbai weisen 42 Prozent der Slum-Behausungen eine Wohnfläche von weniger als zehn Quadratmetern auf.

Aber die Slums sind längst mehr als das hässliche Nebenprodukt des urbanen Molochs. Sie sind „eher die Norm als die Ausnahme“, wie die Vereinten Nationen in ihrem aktuellen Bericht „Zur Lage der Städte der Welt 2006/2007“ feststellen. Die Slums sind die „physische Dimension der Armut“, heißt es darin, aber sie sind auch Ausdruck eines erfolgreichen Überlebenskampfes, und sie repräsentieren die Stadt. Sie sind die Stadt. In Mumbai etwa leben 2 Millionen Menschen auf der Straße und 5 Millionen in Slums. In den großen Städten des südlichen Afrikas sind es bis zu 80 Prozent.

Wer die Probleme von Mexiko-Stadt, São Paulo, Mumbai oder Lagos lösen will, der muss die Probleme der Slums lösen. Hier wird die Schlacht gewonnen oder verloren. Lange galten Slums als monströse Wucherungen, in denen neben eklatanter Armut vor allem Seuchen, Kriminalität und Gewalt die Wellblechlandschaft beherrschen. Den reichen Voyeuren des Nordens boten gelegentliche Kameraschwenks durch die Armenviertel schaudernde Einblicke in eine Angst einflößende Lebensform jenseits von Bausparvertrag und Versicherungspolicen. Die Stadtoberhäupter schickten immer wieder Räumkommandos und Bulldozer, um die illegalen Ansiedlungen abzureißen. In Mumbai wurden im Vorjahr 70.000 Hütten plattgemacht. 84.000 Familien verloren ihre Unterkunft.

Die Bulldozer-Strategie der Abräumung hat sich inzwischen aber in einigen Megacities gewandelt. Allmählich scheint sich eine neue Einsicht durchzusetzen: Slums können nicht abgeschafft, sie müssen instand gesetzt werden. „Slum Upgrading“ – die Aufwertung der Slums – heißt das politische Programm vernünftiger Stadtplanung. Dazu gehören zunächst Bestandsgarantien für die Siedlungen, aber auch Kleinkredite, um die bauliche Substanz der Hütten zu verbessern, und vor allem Infrastrukturmaßnahmen, um Toiletten, Wasser- und Abwassersysteme aufzubauen.

Dazu gehört aber auch ein anderer Blick auf die soziale Funktion der Armensiedlungen. Die Slums ernähren Millionen Menschen, sie sind eine Möglichkeit, der meist noch schlimmeren ländlichen Armut zu entkommen. In ihnen blüht ein riesiger informeller Arbeitsmarkt. Und trotz allem Elend gibt es soziale Kontakte und die Nähe zu städtischen Dienstleistungen. Nicht alle Slumbewohner leben hier aus schierer Armut. Viele bleiben freiwillig, weil sie sich mit den Lebensverhältnissen arrangiert haben. In den Entwicklungsländern fehlt dem Wort „Slum“ ohnehin die bei uns übliche Assoziation von Abschaum und Elend. Slum steht hier lediglich für einen sehr bescheidenen Typ von Unterkunft im informellen Sektor. Der kann durchaus attraktiv sein. Die Qualität der Behausungen in den Slums reicht von einfachsten provisorischen Hütten und zeltartigen Wohnstätten bis zu relativ gut unterhaltenen, stabilen Strukturen. Es fehlt zwar an vielem, aber die Hütten sind dennoch die einzige Möglichkeit für Millionen Menschen, ihre Existenz und ihre Familien zu schützen.

Und auch die nobleren Stadtsiedlungen profitieren von den benachbarten Slums. „Die Slums von Mumbai“, sagt Jockin Arputham, der Gründer der indischen Slum-Siedler-Vereinigung, „sind die Basis für die Blüte der Stadt.“ Ihre Bewohner arbeiten auf dem Bau und ziehen Karren durch die Stadt, sie verkaufen Gemüse und gehen in die Fabriken, sie pflegen die Häuser der Reichen und putzen ihre Schuhe. Das alles zu Preisen, die sich die meisten Einwohner leisten können. Längst existieren vielfältige, von den Behörden weitgehend tolerierte Verknüpfungen zwischen dem offiziellen Arbeitsmarkt und dem informellen Sektor der Slums. Wenn billige und flexible Arbeitskräfte gesucht werden, bedienen sich Unternehmen und Dienstleister über Unterverträge gerne auf dem zweiten Arbeitsmarkt, jenseits von Sozialversicherung und festen Arbeitsverträgen. Der informelle Sektor ist auf die Aufträge des offiziellen Marktes angewiesen.

Offizieller und informeller Arbeitsmarkt, Reichtum und Armut: Die Megacities sind Orte extremer Polarisierung. Hausdiener in Mexiko-Stadt sprühen den Rasen ihrer Herrschaften mit bestem Trinkwasser, während ihre Kinder im Slum aus Dachrinnen trinken. Erfolgreiche Börsenmakler köpfen im Oberoi-Hotel von Mumbai eine Flasche Schampus, die den halben Jahresverdienst eines Slumbewohners kostet. Millionäre und Habenichtse dicht nebeneinander, der Wohlstand ist zumindest in Sichtweite. Mit ihm bleibt die unwiderstehliche Anziehung der Metropolen trotz aller Not ungebrochen. So wachsen die Mega- und Metazentralen der Zivilisation immer weiter mit unumkehrbarer Dynamik.

Beruhigend wirkt da nur der gebetsmühlenhafte Singsang der UN-Offiziellen, die, wie Generalsekretär Kofi Annan, immer wieder fordern, dass sehr viel mehr getan werden muss, um Armut, Kindersterblichkeit, Luftverschmutzung und Verkehrsinfarkte, Kriminalität und Bildungsnot zu bekämpfen.