Marx war voreilig

In seiner Studie über „Ludwig Feuerbach und die Welt des Glaubens“ analysiert der Wissenschaftsjournalist Jens Grandt das revolutionäre Denken um 1840. Was damals als Religionskritik erledigt schien, wird für ihn noch einmal zur Grundlage für einen Dialog im Geiste des Kommunismus

Hegels absoluter Geist war nichts anderes „als der absolute Professor“, wie Feuerbach später schrieb

VON CORD RIECHELMANN

Man kann den Anlass, das Anliegen und das Problem von Jens Grandts Studie „Ludwig Feuerbach und die Welt des Glaubens“ mit zwei Sätzen markieren. Der erste lautet: Wer die Tiefen des europäischen Gedankengangs von 1830 bis 1848 kennt, der sei auf alles vorbereitet, was heute in der Welt laut wird. Er ist kurz nach dem Zweiten Weltkrieg von Carl Schmitt geschrieben worden. Der zweite stammt indes von Karl Marx und wurde 1844 veröffentlicht: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt …“

Angesichts der Tatsache, dass aktuell ein Papst um sein Leben fürchten muss, wenn er richtig aus einer Koran-Sure in einer Vorlesung an einer Universität zitiert, erscheint Marx’ Diagnose zumindest voreilig gewesen zu sein. Das meint auch Jens Grandt, ohne dabei Antimarxist zu werden. Grandt, der Name ist ein Pseudonym, kommt aus der ehemaligen DDR, sein beim Verlag Westfälisches Dampfboot erscheinendes Buch wurde mit einem Druckkostenzuschuss der Internationalen Marx-Engels-Gesellschaft ermöglicht. Auch das sind Markierungen. Aber warum schreibt ein Marxist ein Buch über Feuerbach und die Welt des Glaubens, wo doch jeder Aushilfslehrer jeder marxistischen Lehranstalt weiß beziehungsweise wusste, dass Feuerbach zwar der materialistischen Philosophie im 19. Jahrhundert zum Durchbruch verholfen hat, aber auf halbem Wege stehen geblieben ist? Genau um solche marxistischen Lehramtsfloskeln beiseitezuräumen.

„Seine ‚materialistische Beantwortung der Grundfrage der Philosophie‘ – eine Floskel, die in einigen marxistischen Lehranstalten bis zum Überdruss strapaziert wurde, ohne daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen –, seine Anthropologie, die Beiträge zur Psyche des Menschen, zur Ethik und Moral weisen Feuerbach als eigenständigen, originären Denker aus“, schreibt Grandt. Und es gehört zu Grandts Stärken, seine Abscheu gegenüber den unempfindlichen, staatlich alimentierten Funktionären, die jene bebenden, einst umstürzend wirkenden Gedanken von Feuerbach oder Marx lediglich dahersagen können, so wie in diesem Zitat zu verkleiden.

Grandt muss schon zu DDR-Zeiten den Widerspruch zwischen der Biedermeier-Gewalttätigkeit der Funktionäre und dem Inhalt ihrer Lehre gespürt haben, sonst könnte er jetzt nicht so fein austariert Feuerbach wieder neben Marx ins Spiel bringen. Damit unterläuft er allerdings auch jene fortschreitende Geschichtsauffassung, die weder Ochs noch Esel aufhält und nach der das Neue immer das Alte erledigt. Denn Feuerbach ist zweifellos älter als Marx. Und um dieses Verhältnis nachzuzeichnen, taucht Grandt noch einmal in die Tiefen des europäischen Denkens jener Zeit.

Was damals los war, kann man schon an den wirkmächtigen Veröffentlichungen der Jahre 1843/44 ersehen. Es erscheinen: Feuerbachs „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“, Bruno Bauers „Das entdeckte Christentum“, Sören Kierkegaards „Entweder-Oder“ und Karl Marx’ „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, die der oben zitierte Satz über die Kritik der Religion einleitet. Alle Werke sind sich darin einig, Hegels Versöhnung von Gott und Mensch in der Menschwerdung Gottes radikal zu verwerfen.

Die Radikalität der Gedanken wirft ihre Autoren aus der akademischen Bahn. Keiner der vier wird Professor an einer Universität. Diejenigen, die erkannt hatten, dass Hegels absoluter Geist nichts anderes war „als der absolute Professor“, wie Feuerbach später schrieb, blieben Privatgelehrte. Für Marx war mit der Kritik der Religion, die für ihn die Voraussetzung aller Kritik ist, allerdings auch Feuerbach erledigt. Marx wandte sich der Ökonomie und Politik zu. Mit dem Erscheinen von Feuerbachs „Das Wesen der Religion“ 1846 war er für Marx und Engels nur mehr Geschichte.

Grandt zeichnet die Jahre vor und nach der Trennung aus verschiedenen Gründen sehr genau nach. Zum einen will er Feuerbachs unbedingtes Festhalten an der Religionskritik und -forschung verständlich und für die Gegenwart nutzbar machen. Marx habe, meint Grandt, natürlich recht, wenn er die Feuerbach’sche Kritik der Religion im Wesentlichen für vollendet hält. „Aber auch nur im Wesentlichen und eben deswegen nur für einzelne denkende Köpfe“, wie er wiederum Feuerbach zitiert, denn „noch ist ihr Resultat keine unmittelbare, keine populäre Wahrheit“. Polemisch heißt das, dass die Welt nicht dazu da ist, dass sich ein paar kluge Köpfe in ihr verständigen, sondern dass Menschen in ihr leben.

Doch in seiner Analyse will Grandt mehr. Über Feuerbachs Anthropologie, die wesentlich eine dialogische ist, versucht er, gegen den untergegangenen Kommunismus wieder den Kommunismus einzuführen. Feuerbach hat sich selbst zeit seines Lebens als Kommunist bezeichnet. Allerdings war sein Kommunismus negativ bestimmt, durch diverse Abgrenzungen: keine Utopie, keine Orthodoxie, keine Vereinskrämerei. Vernünftiges Engagement ja, aber keinen Aktionismus. Dass Letzteres auch eine gewaltsame Revolution ausschließt, ist klar. Auch in diesem Punkt dürfte er deshalb Marx und Engels zu liberal gewesen sein.

Mit dem Liberalismusverdacht gegen Feuerbach kommt nun auch Carl Schmitt zurück. Der Staatsrechtler, der als Kronjurist des Dritten Reiches treffend, aber unzureichend beschrieben ist, hat seine Überlegungen zur jener Zeit, in der Feuerbach das Denken mitgeprägt hat, im Gefängnis notiert, nachdem ihn die Alliierten eingesperrt und seiner Bibliothek beraubt hatten. Schmitt verfällt so allein gelassen auf Max Stirners Egoistenfibel „Der Einzige und sein Eigentum“ und macht die richtige, aus Schmitts Mund allerdings jämmerliche Feststellung, dass der Selbstbetrug zur Einsamkeit gehört. Erst nach dem Ende seines Herrn, des von Schmitt als säkularer Erlöser wahrgenommenen A. H., fallen dem Katholiken Schmitt wieder die einsamen Besiegten der Geschichte ein – und Stirner hat ihn darauf vorbereitet.

Mit Feuerbach hätte der Theoretiker des Ausnahmezustandes allerdings schon auf andere Ideen kommen können. Auch Feuerbach hatte Stirner gelesen und dem Egoisten seinerzeit beschieden: „Individuum sein heißt allerdings ‚Egoist‘ sein, es heißt aber auch zugleich … Kommunist sein … Schlage dir den Einzigen im Himmel, aber schlage dir auch den Einzigen auf Erden aus dem Kopfe!“

Grandt gelingt es so, mit Feuerbach dem gegenwärtigen, neoliberalen und angeblich alternativlosen Einsamkeits- und Siegercredo die emanzipatorische Sinnlichkeit eines Menschen entgegenzusetzen, der soziale Zeit und sozialen Raum schafft.

Jens Grandt: „Ludwig Feuerbach und die Welt des Glaubens“. Westfälisches Dampfboot, 2006, 362 Seiten, 29,90 Euro