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Archiv-Artikel

Das geheime Zentrum der Bücher

Romane, die Trost verweigern, und Underground-Credits im Literaturbetrieb: Ein Überblick über das Angebot des Herbstes. Zugleich eine Lockerungsübung sowie ein Hinweis auf Jonathan Franzens autobiografischen Essay „The Discomfort Zone“

VON DIRK KNIPPHALS

Erst mal lockermachen: Das Buch dieses Herbstes wird hier nicht ausgerufen. Und dann: eine Verbeugung. Man hat sich ja schon so daran gewöhnt, zweimal im Jahr von einer Bücherflut überrollt zu werden, dass man sich gar nicht mehr recht klar macht, wie unwahrscheinlich das ist und – ja doch! – wie schön.

Dies ist also unbedingt ein Plädoyer dafür, sich möglichst viele Bücher zu kaufen und sie am besten möglichst bald zu lesen. Mag sein, dass man in unserer kulturbeflissenen Gesellschaft mit so einer Aufforderung offene Türen einrennt. Immerhin, zu den üblichen Begründungen (Bildung!, Humanismus!) kann man noch einen schönen Nebeneffekt gelungener Lektüre anfügen: Sobald man ein interessantes Buch in Händen hat, verblassen all diese unvermeidlichen Begleitdiskurse, diese seltsame Trennung zwischen Emphatikern und Gnostikern beispielsweise, die neulich aufkam – erinnert sie nicht eh allzu sehr an diese Tastenkombinationen:-) (= Emphatiker) beziehungsweise :-( (= Gnostiker), die man beim Simsen benutzt?

Konkret: Es gibt „Dirac“, den Roman, mit dem der Schriftsteller und Journalist Dietmar Dath seine Underground-Credits in den Literaturbetrieb transferieren könnte. Es gibt Annette Pehnts „Haus der Schildkröten“, eine Trost verweigernde literarische Studie über den Leben in einem Altersheim. Es gibt den radikalen Erforscher der eigenen Schicksallosigkeit und Nobelpreisträger Imre Kertész, der mit einem „Dossier K.“ hervortritt. Es gibt David Mitchells stilmächtigen Roman „Der Wolkenatlas“. Es gibt Tony Parsons Suche nach der verlorenen Punk-Zeit, „Als wir unsterblich waren“. Es gibt Philippe Dijans „Die Frühreifen“, die mal eben Michel Houellebecq lässig in den Schatten stellen, und und und.

Zu allen diesen Büchern (und noch viel mehr) finden Sie Besprechungen in dieser Beilage; die politischen und geisteswissenschaftlichen Bücher nicht zu vergessen. Und dann gibt es ja auch noch John Updikes Einfühlungsroman „Terrorist“ oder Saša Stanišić’ Erinnerungsbuch „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ oder sogar auch wieder Botho Strauß – in seinem neuen Buch „Mikado“ belohnt er alle Menschen, die ihn als Beobachter der Gegenwart nicht ganz aufgegeben haben. Diese Bücher (und noch viel mehr) haben wir schon auf unseren Kulturseiten besprochen. Einiges los also im Herbstprogramm, auch oder vielleicht sogar gerade jenseits von Grasswalserenzensberger.

Dass der Indien-Schwerpunkt ein Erfolg sein wird, zeichnet sich auch schon ab. Wobei aus der Fülle der Angebote bislang vor allem ein Buch herausragt: Suketu Mehtas Sammlung mit literarischen Reportagen „Bombay. Maximum City“. Kein Kollege, der in diese großartige Stadtrecherche hineingeguckt hat, konnte es unausgelesen beiseitelegen – und das waren immerhin schon fünfzig Prozent der taz-Kulturredakteure (schönes Beispiel übrigens, wie wirklich Bestseller gemacht werden: über Mundpropaganda – einer sagt zum anderen: „Tolles Buch, musst du lesen.“ Den Rest erledigt das Schnellballsystem).

Was bedeutet das alles? Vielleicht ja, dass man endlich mal über diese kulturellen Verfallsgeschichten hinauskommt, die uns immer noch in Zeiten des Bildungsverfalls wähnen. Außerdem ist es ein in unserer Kulturgesellschaft eingeübtes Verfahren, die Vielfalt des Angebots zu Buchmessenzeiten auf einige Namen zu reduzieren, die dann zu Stars ausgerufen werden – auratische Helden für eine Saison. Dahinter steckt immer noch die kulturreligiöse Vorstellung, dass im Grunde ein Buch reichen müsste, um die Welt (oder wenigstens das Leben des Lesers) zu ändern, und dass viele Bücher immer Beliebigkeit bedeuten. Diese Vorstellung hat aber mittlerweile durchaus etwas Albernes, und man kann es sich schon mal leisten, in den Freuden der Addition zu schwelgen: und noch ein und noch ein und noch ein anregendes Buch, um sich die Gegenwart und sich selbst in ihr vielfältig interessant zu machen.

Denn dann gibt es ja auch noch die vielen, vielen Bücher, die man selbst entdecken kann und die dann für einen zum privaten Schatz und großen Buch des Herbstes werden. Stellvertretend für viele andere könnte das Jonathan Franzens Essay „The Discomfort Zone“ sein, auf den man auf der Frankfurter Messe beim Stand des US-amerikanischen Verlags Farrar, Straus and Giroux stößt (196 Seiten, 18,95 Euro bei Amazon; eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung). Woher Franzen das Material seines Welterfolges „Korrekturen“ hat, kann man dieser autobiografischen Skizze entnehmen. „Grabe dort, wo du selbst stehst“, an dieses Motto hat sich Franzen gehalten und in dem großen Roman seine eigenen kleinen Erfahrungen bearbeitet: Die strenge Mutter, der beamtenhafte Vater, das Haus, überhaupt der Familienkosmos der amerikanischen Mittelklasse und das im Verlauf der Zeit allerdings erodierende Gefühl, in der „Mitte der Mitte“ zu leben – all das, was man aus den „Korrekturen“ kennt, taucht hier in der Selbstbeschreibung des Autors neu zusammengestellt wieder auf. Ausgangspunkt ist der Hausverkauf nach dem Krebstod der Mutter, und es gibt tolle Szenen: Wie Franzen etwa den Verlust einer Schere – eines der wenigen Gegenstände, die er aus dem Nachlass der Mutter bewahrt hat – noch Monate später nicht fassen und akzeptieren kann, ist großartig aufgeschrieben.

Was „The Discomfort Zone“ über solche Details – auf die es bei Büchern ankommt! – interessant macht, ist sein entspannter Umgang mit der Literatur. Franzen versuchte eine Zeitlang, in München Deutsch zu lernen, was er über Thomas Mann, Rilke und Karl Kraus anmerkt, wird Bildungsbürger nicht immer froh machen; aber man spürt, was Franzen von ihnen gelernt hat. Außerdem stammt er aus der amerikanischen Tradition etwa eines John Updike oder Philip Roth, in der ein Ehebruch oder eine andere persönliche Erfahrungen so ernst genommen wird wie anderswo eine Staatsaffäre oder ein ganzer Weltkrieg.

Vielleicht ist das sowieso das ganze Geheimnis um die Literatur insgesamt: das Ernstnehmen von Erfahrungen! Wenn das so ist, stünde das kleine Buch von Jonathan Franzen so in etwa im geheimen Zentrum all der unübersehbar vielen Bücher dieses Herbstes. Es steht aber ganz bestimmt nicht alleine da.