: Anfang vom Ende
Vorbild „24“: Mittlerweile hat die Mehrheit der neuen US-Serien Erzähl-Bögen, die über ganze Staffeln reichen – und am besten auf DVD kommen
AUS NEW YORK LEIF KRAMP
Es ist noch nicht lange her, dass der kanadische Regisseur Jon Cassar feierlich verkündete: „Wir arbeiten in einem neuen goldenen Zeitalter des Fernsehens! Lasst es uns genießen!“ Da hatte er gerade den US-Fernsehpreis „Emmy“ für die Echtzeit-Serie „24“ verliehen bekommen. Doch Cassar hat noch mehr Grund zum Jubeln. Längst ist sein persönliches Erfolgsrezept zum Erfolgrezept des US-Fernsehens überhaupt geworden: Das Konzept komplexer Handlungsstränge, die sich wie bei „24“ über ganze Staffeln erstrecken, hat mittlerweile vollends die Programmhoheit erlangt.
Lässt man die Comedy-Formate außen vor, haben 14 der insgesamt 17 neuen Serien in diesem Programmherbst eine übergreifende Erzählstruktur. Im Drama „The Nine“ zum Beispiel wird das Geschehen mit jeder Folge geheimnisvoller. Ähnlich wie schon in „Lost“ konzipierte die bisher kaum aufgefallene Autorin K. J. Steinberg ihre Serie rund um ein kollektives traumatisches Erlebnis, in diesem Fall eine Geiselnahme in einer Bank. Neun Geiseln müssen 52 Stunden lang ausharren, bis sie befreit werden: Ausgangspunkt, um die Auswirkungen des gemeinsam erlebten Schreckens zu ergründen. Natürlich ist nichts so, wie es scheint, und so mancher Betroffener hat mehr zu verbergen, als der Zuschauer zunächst ahnt.
Das Familienportrait „Brothers & Sisters“ dagegen setzt weniger auf Spannung, sondern lässt sich viel Zeit, um ins Seelenheil einer Großfamilie zu blicken. Es ist nicht nur das Comeback von Calista Flockhart, bekannt als Ally McBeal, sondern auch ein angenehm leises Charakterdrama über die allzu menschlichen Probleme einer ganz offensichtlich dysfunktionalen Familie, die sich der Öffentlichkeit als kultivierter Clan präsentiert. Doch die Geschwister, die nach dem Herzinfarkt des Patriarchen das Familienunternehmen führen müssen, haben mit mehr zu kämpfen als einem ruinierten Cash-Flow: Es geht um falsche Erwartungen und verletzte Gefühle, aber auch um bedingungslose Loyalität und sogar Liebe.
In „Studio 60 on the Sunset Strip“ wiederum, einem von der Kritik zur besten neuen Serie gewählten Blick hinter die Kulissen einer Comedy-Show à la „Saturday Night Live“, dreht sich alles um ausgefeilte Dialoge und verlässliche Freundschaft im sprunghaften TV-Geschäft. Zwei Fernsehkreative bekommen den Auftrag, die kriselnde Show wieder auf Vordermann zu bringen. Matthew Perry ist hier in seiner besten Rolle seit „Friends“ zu sehen und zeigt gemeinsam mit Ko-Star Bradley Whitford, wie essentiell die Auswahl der richtigen Hauptdarsteller ist. Kreiert hat diese eher heroisierende als komische Parodie auf das Innenleben der US-Fernsehindustrie das Serien-Wunderkind Aaron Sorkin, der seit seiner vom deutschen Fernsehen bisher völlig ignorierten Politserie „The West Wing“ als Genie der Branche gilt.
So sehenswert einzelne Formate auch sein mögen: Das „neue goldene Zeitalter“ läutet gleichzeitig auch die Abkehr vom Fernsehen als exklusivem Showroom für neue Produktionen ein. Die Industrie schielt schon seit längerem auf eine andere populäre Verwertungsart, die bald schon die wichtigste Einkommensquelle für TV-Produzenten werden und damit das Fernsehen an sich zweitklassig machen könnte: das Geschäft mit DVDs. Die Hinwendung zu komplexen Serien macht offenbar: Was den Zuschauer Woche für Woche an den Fernseher fesselt, sorgt zwingend auch für hohe Verkaufszahlen der betreffenden DVDs. Schließlich stehen die Silberlinge für die Emanzipierung von der Programmstruktur einzelner Sender, weil nicht mehr quälend lange bis zur nächsten Ausstrahlung gewartet werden muss, sondern ein Knopfdruck genügt, um zur nächsten Folge zu springen. Außerdem fehlt die Werbung.