Indien für Außerindische

Das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse steckt voller Menschen – und voller Klischees: Die Inder verehren Gandhi und heilige Kühe, ihre Städte und Firmen boomen, alles ist farbenfroh – kein Indien-Buch kommt ohne aus, also Ihr längst überfälliges auch nicht. Eine Schreibhilfe

Mahatma Gandhi

Der 1869 geborene und 1948 ermordete Über-Asket und geistige Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung verkörpert im Ausland das Bild des Parade-Inders. Seine Eigenschaften – der Verzicht auf jede Form von Gewalt und die Abkehr von materialistischen Wünschen – werden fälschlicherweise dem indischen Gemüt zugeschrieben. Gandhi wurde jedoch nicht bewundert, weil er die grundlegenden Eigenschaften des Volkes verkörperte, sondern weil er anders war als alle anderen. Die indische Mentalität strebt nämlich eigentlich nach Macht und Wohlstand, als geradezu verwerflich gilt das Auslassen von Chancen, die zu diesem Ziel führen. Machen Sie sich aber nichts draus und beschreiben Sie in jeder Geschichte einen Menschen, der in seinen Eigenschaften oder seinem Aussehen Gandhi ähnelt und stellen Sie diese Person als typisch für die Mentalität des Landes dar.

Land der Gegensätze

Nehmen Sie das Klischee vom Land der Gegensätze auf. Das bringt Spannung in Ihre Geschichte. Stellen Sie die Stadt- gegen die Landbevölkerung, die Alphabeten gegen die Analphabeten, den armen, aber weisen Bordstein- oder Slumbewohner gegen das selbstsüchtige Mitglied der ignoranten Oberschicht. Gehen Sie davon aus, dass im Slum und auf dem Dorf soziale Gerechtigkeit herrscht, während in den Hochhausburgen und Villen der Reichen alle zivilisatorischen Regeln über Bord geworfen werden. Verkehren Sie dieses Prinzip jedoch, wenn Sie über die Rechte von Frauen schreiben. Stellen Sie es so dar, dass die Frauen im Dorf grundsätzlich schlecht behandelt werden, während die Frauen in den Metropolen grundsätzlich ihre Unabhängigkeit entdecken.

Heilige Kuh

Schätzungsweise 250 Millionen Kühe leben in Indien. Mindestens eine davon sollte in Ihrer Geschichte vorkommen. Beschreiben Sie, wie dieses wohlgenährte heilige Tier den Berufsverkehr lahmlegt und trotzdem verehrt wird. Lassen Sie außer Acht, dass der Verkehr so dicht geworden ist, dass die Kuhherden, die man früher tatsächlich immer und überall sah, aus dem Stadtbild der Megacitys verschwunden sind. Nur hin und wieder stakst heute noch ein verlorenes, meist abgemagertes Rindvieh durch die Straßen.

Kama Sutra

Bewahren Sie sich die Vision, dass alle Inder dank des Kama Sutra sexuell gut drauf sind. Vergessen Sie, dass ein Großteil der Ehen noch immer von der Eltern arrangiert werden und sich die Eheleute zu Beginn ihrer Zweisamkeit meist völlig fremd sind. Das Streben nach der Erfüllung körperlicher Bedürfnisse gehört zwar zur hinduistischen Lehre. Allerdings nur theoretisch. Tatsächlich wohnen viele Paare zunächst in der elterlichen Wohnung, die oft nur ein oder zwei Zimmer hat – nicht gerade sexy.

Der Boom

Hier kommt das Wirtschaftswunder! Fragen Sie sich, warum das Land plötzlich reich ist. Fragen Sie sich nicht, warum es vorher arm war. Schreiben Sie jede wirtschaftliche Entwicklung dem High-Tech-Boom zu. Dass nur etwa ein Million Menschen in Indien direkt in der Softwareindustrie arbeiten, braucht Sie nicht zu interessieren, schließlich haben Sie oft genug die glitzernden Glasfassaden Bangalores im Fernsehen gesehen. Falls es Ihnen zu einfach erscheint, alle Inder als dickbebrillte Computer-Freaks darzustellen, weichen Sie auf Call-Center-Mitarbeiter aus. Staunen Sie Ihren Lesern vor, wie viel Energie diese Menschen haben, wie optimistisch sie sind. Erwähnen Sie nicht, dass der wirtschaftliche Aufschwung mit den Reformen von 1991 zu tun hat. Bei diesen Reformen wurde das von Jawaharlal Nehru, dem ersten Ministerpräsidenten des Landes, geförderte sozialistische Wirtschaftssystem außer Kraft gesetzt. Erwähnen Sie nicht, dass der Sozialismus vor allem korrupten Bürokraten in die Hände spielte.

Indien vs. USA

Wenn Sie schon vom Sozialismus reden, dann erwähnen Sie, dass Indien im Kalten Krieg eher auf der Seite Russlands als der der USA stand. Nehmen Sie das als Beweis dafür, dass die USA dem asketischem Inder (siehe „Mahatma Gandhi“) ein Graus sein müssen. Erwähnen Sie nicht, dass die USA nirgendwo auf der Welt beliebter sind als in Indien, Cola-Krieg hin oder her. In einer Studie von 2005 sollten Menschen aus 16 Ländern beurteilen, ob sie ein positives Bild der USA haben. 71 Prozent der indischen Beteiligten bejahten. Nur in den USA sind die USA beliebter.

Hippie-Indien

Die Strände Goas sind voll von Menschen, deren Ziel es ist, von nicht mehr als zwei Euro pro Tag zu leben. Drogen sind da natürlich nicht mit eingerechnet. Nehmen Sie eine Gruppe dieser Menschen und lassen Sie diese das wahre indische Leben kennen lernen, indem Sie sie in einem flohbefallenen Hostel übernachten lassen. Hier kommt die Gruppe in Kontakt mit Einheimischen und lernt von ihnen die Sitten des Landes lernen. Das Ergebnis sind gegenseitiger Respekt, Verständnis und lebenslange Freundschaft. Erwähnen Sie nicht, dass die meisten Inder die Hippies an den Stränden ihres Landes für degenerierte Drecksschleudern halten, die man besser nicht ins Land ließe.

Bollywood-Indien

Dank der ungewöhnlichen Allianz zwischen RTL 2 und Arte kennt heute fast jeder, der Oliver Kahn kennt, auch Shahrukh Khan. Mit den aufwändigen bunten Kostümen betonen Hindi-Movies, dass Indien das Land der Farben ist. Die Fließbandproduktionen der indischen Filmindustrie, in denen immerzu gesungen und getanzt wird, bieten einen beliebten Hintergrund für Geschichten, die das hedonistische Element der indischen Seele illustrieren sollen. Erwähnen Sie, dass die indische Filmindustrie größer ist als die Hollywoods. Betonen Sie, dass es in den Filmen züchtig zugeht (siehe „Kama Sutra“) und die Finanzierung der Filme oft aus dubiosen Quellen stammt. NATALIE TENBERG