ULRIKE HERRMANN ÜBER DIE PRIVATE KRANKENKASSE
: Zwang zur Zahnlücke

Deutschland wandelt sich von der Solidargemeinschaft zur Äquivalenz-Gesellschaft

Die Arbeitnehmer in Deutschland werden doppelt geschröpft: Seit dem Jahr 2000 sind ihre Reallöhne im Mittel gesunken – aber von diesem schrumpfenden Einkommen müssen sie immer mehr Geld abzweigen, um privat vorzusorgen. Wer eine auskömmliche Rente haben will, soll einen Riester-Vertrag abschließen. Wer nicht mit Zahnlücken umherlaufen möchte, findet sich oft in einer privaten Zusatzversicherung wieder.

Was die Angestellten verlieren, gewinnen ihre Arbeitgeber. Bei den fallenden Reallöhnen ist dies offensichtlich, aber auch die „private Vorsorge“ ist ein Subventionsprogramm für Unternehmer. Sie dürfen sich aus der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungen zurückziehen. Früher wurden die Beiträge für die Rente und die Krankenkasse zur Hälfte von den Arbeitnehmern und zur Hälfte von den Arbeitgebern gezahlt, doch inzwischen müssen die Angestellten viele Kosten alleine schultern.

Diese Lastenverschiebung ist nicht nur prinzipiell ungerecht, sondern trifft vor allem die Schwachen. Besserverdienende können es sich leisten, medizinische Dienste selbst zu zahlen. Geringverdiener aber können keine zusätzliche Renten- oder Krankenversicherung finanzieren, wie eine neue DIW-Studie zeigt.

Schon jetzt sieht man alte Menschen mit Zahnlücken in Müllcontainern wühlen, um nach Pfandflaschen und -dosen zu fahnden. Noch vor zehn Jahren waren solche Bilder undenkbar – und in weiteren zehn Jahren werden sie gänzlich normal sein. Denn der Trend ist ungebrochen: Deutschland wandelt sich von einer Solidargemeinschaft in eine „Äquivalenz“-Gesellschaft. Äquivalenz ist ein Begriff aus der Versicherungsmathematik und meint, dass man nur wieder herausbekommt, was man vorher eingezahlt hat. Da verliert jeder, der nicht reich ist. Aber das ist ja der Plan.

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