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Archiv-Artikel

Diese merkwürdig grausamen Entfaltungen der Liebe

ANNÄHERUNG Wieder Gewitter, wieder Elba: Jean-Philippe Toussaint, der moderne Romantiker, schließt seine Marie-Trilogie ab

Wieder so ein Augenblick – der Einbruch der zügellosen Schönheit in die kontrollierte Welt

In einer apokalyptischen Gewitternacht auf dem Flughafen von Tokio geschehen Dinge, die es sonst nicht gibt: „Mit drückendem Magen, gebläht durch die Gärung, fühlte er, wie sein Futter ihm den Magen hochstieg, kalter Schweiß ertränkte ihm seine Schläfen, und plötzlich verspürte er diese so konkrete physische Nähe zum Sterben, die man dann verspürt, wenn man kurz davor ist, sich zu übergeben, wenn dieser schauderhafte saure Speichel, der in den Mund steigt und das unmittelbare Bevorstehen des Erbrechens ankündigt, wenn sich die Eingeweide verkrampfen und der Mageninhalt plötzlich den Hals überschwemmt und in den Mund schießt, so fing Zahir in dieser Nacht, während dieses Nachtflugs im Frachtraum der Boeing 747, ungeachtet seiner Natur, ein Verräter seiner Spezies, zu kotzen an.“

Ein Zitat dieser Länge ist nötig, um die Stärken zu demonstrieren, die Jean-Philippe Toussaints Prosa auszeichnen: Eleganz und Klarheit, beängstigende Nähe zum Tod, gleichzeitig Verankerung im Hier und Jetzt. Und das Vermögen, in einem zivilisatorischen Großzusammenhang Augenblicke des Mythischen aufscheinen zu lassen. Der kotzende Zahir ist nicht etwa ein Mensch, sondern ein Rennpferd, womit das Sprichwort, man habe schon Pferde kotzen sehen, hier noch einmal eine ganz neue Bedeutung erhält.

„Die Wahrheit über Marie“ ist der Abschluss von Toussaints Romantrilogie, die nicht weniger zu erkunden versucht als die Liebe in all ihren diffizilen, merkwürdigen, grausamen Entfaltungen. Im ersten Teil „Sich lieben“ trennen Marie und der namenlose Ich-Erzähler sich in einem Hotelzimmer in Tokio. „Fliehen“, der zweite Teil erzählt die Vorgeschichte – eine nicht ganz koschere Geschäftsanbahnung in Japan, die Beerdigung von Maries Vater auf Elba. Und der Ich-Erzähler: stets auf der Flucht. Auch „Die Wahrheit über Marie“ verhandelt die Dichotomie von der Rasanz der Gegenwart und der unendlichen Dehnung der Zeit, die in manchen Momenten in einem Reflexionszustand stillzustehen scheint.

Der neue Roman ist ein düsteres Nachtstück, geprägt von Hitze und einer (auch erotischen) Schwüle. Das Buch ist ein Triptychon. Erstes Bild: In einer glutheißen Pariser Nacht stirbt, während der Ich-Erzähler in einer nicht weit entfernten Wohnung mit einer anderen Frau zusammen ist, Maries Liebhaber Jean-Baptiste de Ganay an einem Herzinfarkt. In einem Anfall von – ja, was? Verzweiflung, Sehnsucht, Erkenntnis? – ruft Marie den Ich-Erzähler zu Hilfe. Der Beginn einer Annäherung, wenn es überhaupt jemals eine Entfernung gegeben hat. Wenn es nicht das Hauptmerkmal dieser Verbindung wäre, dass sie nie aufhört. Zweites Bild: Der Rennstallbesitzer Jean-Baptiste de Ganay muss auf schnellstem Wege Japan verlassen, mit ihm Zahir, sein bestes Pferd, das unter Dopingverdacht steht. Er fragt Marie, ob sie ihn begleiten wolle – der Auftakt zu einer furiosen Episode, in der das fliehende Pferd den gesamten Flughafen lahmlegt, bis es, siehe oben, von Erschöpfung übermannt wird. Wieder so ein Toussaint’scher Augenblick – der Einbruch der zügellosen Schönheit in die von Flugplänen kontrollierte Welt.

Drittes Bild: Marie und der Ich-Erzähler, wieder auf Elba, wieder Gewitter in der Luft; die Farbe Blau scheint aus der Landschaft getilgt worden zu sein. Fremd ist alles und doch vertraut, Gesten, Blicke, Geräusche, Gedanken: „Oder war es nicht doch mein eigener Geist, in dem jetzt die Träume Maries dahinflossen, so als wenn dadurch, dass ich an sie dachte, dass ich ihre Anwesenheit heraufbeschwor, dadurch, dass ich ihr Leben stellvertretend lebte, ich dazu gekommen war, mir nächtens vorzustellen, dass ich ihre Träume träumte.“ Eine Innigkeit kommt hier zum Ausdruck, die so fragil ist und so katastrophennah, dass man kaum wagt, den Abschluss als Happy End zu bezeichnen. Klar ist: Jean-Philippe Toussaint, ein moderner Romantiker, hat mit seiner Marie-Trilogie eine brillante Liebesgeschichte geschrieben. CHRISTOPH SCHRÖDER

Jean-Philippe Toussaint: „Die Wahrheit über Marie“. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. FVA, Frankfurt am Main 2010, 192 Seiten, 19,90 Euro