: „So sehr Tier sein, so bewusstlos sein“
IM GESPRÄCH Tilda Swinton über ihren neuen Film, ihre Hochachtung für einen Esel und Brötchensein in Hollywood
■ Preisgekrönt: Tilda Swinton wurde am 5. November 1960 in London geboren. Zu internationaler Anerkennung als Schauspielerin gelangte sie 1992 bei den 48. Filmfestspielen in Venedig, wo sie für ihre Rolle in „Edward II“ von Derek Jarman als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde. Mit Jarman war sie bis zu dessen Tod 1994 eng befreundet; in zahlreichen seiner Filme spielte sie mit. 1993 hatte sie mit dem Film „Orlando“ von Sally Potter, der auf Virginia Woolfs Roman basiert, den nächsten großen Erfolg. 2008 bekam die Schauspielerin für ihre Rolle in „Michael Clayton“ den Oscar als beste Nebendarstellerin.
INTERVIEW CRISTINA NORD
taz: Frau Swinton, die Figur, die Sie in „I Am Love“ spielen, Emma, wirkt am Anfang des Film sehr kontrolliert und kontrollierend. Das ändert sich, als sie dem Koch Antonio begegnet. Ich habe den Eindruck, dass viele Ihrer Filmfiguren sich in so einem Spannungsfeld von Kontrolle und Kontrollverlust bewegen.
Tilda Swinton: Es geht nicht so sehr um Kontrolle, sondern um ein Gefühl von Identität und um die Idee, dass Änderungen vermeidbar sind. Was mich betrifft, sind Änderungen unausweichlich und das einzige, worauf wir uns verlassen können. Das macht mich neugierig für das Ausmaß, in dem die Gesellschaft versucht uns davon zu überzeugen, dass wir eine Identität wählen können, in der wir uns vollkommen sicher fühlen, undurchlässig für jedwede evolutionäre Kraft. Sobald entschieden ist, dass man eine Mutter, ein Alkoholiker oder ein Berufssoldat ist, bedeutet das, dass es unmöglich wird, sich zu verwandeln oder jenseits der Grenzen dieses Rahmens zu operieren.
Was heißt das für Emma?
Sie ist wie eine Schlafwandlerin. Fragte man sie, sie würde antworten, dass sie vollkommen zufrieden ist. Sie ist keine verzweifelte Hausfrau, sie hat ihre Aufgabe, und die erfüllt sie. Wenn sie dann aufwacht – übrigens wie in einem Märchen, mit einem alten König, einem jungen König, dem Küchenjungen und einem Zaubertrank –, dann ist das wirklich eine Verwandlung.
Der Regisseur Luca Guadagnino legt viel Wert darauf, den Luxus, in dem diese norditalienische Industriellenfamilie lebt, in Szene zu setzen. Wie stehen Sie zu dieser Opulenz?
Die Umgebung ist mehr als eine zusätzliche Figur in dieser Geschichte, sie ist der Boden, aus dem diese Geschichte gewachsen ist. Sie prägt die Menschen. Sobald man ein so opulent möbliertes Haus betritt, den Mantel von einem Dienstmädchen abgenommen bekommt und in ein Zimmer geführt wird, verhält man sich anders. In Filmen über reiche Leute ist es oft so, dass die Kamera hypnotisiert ist und still steht wie ein Kaninchen vor Scheinwerfern. Und wir, das Publikum, verharren in einer seltsamen Haltung von masochistischer Ehrerbietung. Das wollten wir am Anfang haben, aber dann näher bei den Figuren sein, um sie herum sein, in ihren Haaren, in ihren Achselhöhlen.
Die Kamera ist dann auch sehr agil in der Art und Weise, wie sie die Figuren umspielt.
Ja, und es ist ein fragiles Gleichgewicht, das wir erzielen wollten, da wir zunächst in der Opulenz des Palastes schwelgen, dann versuchen, den Eindruck zu erwecken: all das ist ein Museum und seit mindestens zwei Generationen so eingerichtet, bis wir schließlich zum Gefängnis übergehen. Am Ende will man aus diesem Haus nur noch ausbrechen.
Sprechen Sie Italienisch?Offenkundig, aber nur mit einem russischen Akzent.
Und Sie sprechen kein Englisch?
Nur ein Wort: „borsch“.
Wie ist es, in einer Fremdsprache zu drehen?
Ganz ehrlich: Ich habe sehr oft das Gefühl, in einer Sprache zu drehen, die nicht die meine ist. In Amerika zu drehen zum Beispiel fühlt sich sehr fremd an. Es ist eine Fremdsprache, ein fremder Rhythmus, eine fremde Haltung; meine eigene Stimme nutze ich nur sehr selten.
Vor einem Jahr waren Sie Gast des Wiener Filmfestivals Viennale. Sie hatten Carte blanche, einen Film zu zeigen. Sie wählten „Zum Beispiel Balthasar“ von Robert Bresson, einen Film, in dem ein Esel die Hauptfigur ist. Warum?
Weil es für mich die ideale Performance ist, die Darbietung, die mich am allermeisten inspiriert hat. Das ist natürlich ein Widerspruch in sich, dass ein Esel ein Performer ist. Aber für mich als Cinephile geht es genau darum: um die Möglichkeit echter Offenheit, um eine Präsenz, um etwas Aufgeräumtes und noch nie Dagewesenes. Das ist die Performance, die ich anstrebe: so sehr Tier sein, so bewusstlos sein.
In welchem Ihrer Filme erreichen Sie diese Präsenz?
Darauf kann ich eigentlich keine Antwort geben. In dem Film, den ich mit Eric Zonca gedreht habe, haben wir es mit einer Art von Tierhaftigkeit zu tun, die allerdings aus einer anderen Richtung kommt. Denn in „Julia“ spiele ich ja eine Frau, die viel mehr Schauspielerin ist, als ich es je sein könnte. Der Esel Balthasar zeichnet sich durch seine Ehrlichkeit aus, dadurch, dass er nichts vortäuschen kann. Julia hingegen sagt in dem ganzen Film gerade zweimal die Wahrheit, sie lügt die ganze Zeit. Gerade weil sie aus der entgegengesetzten Richtung kommt, nähert sie sich auf seltsame Weise diesem Tierporträt an. Aber ich weiß nicht recht. Auf Ihre Frage antworte ich lieber: in meinem nächsten Film.
TILDA SWINTON
Stimmt es, dass Sie mit der Berliner Filmemacherin Ulrike Oettinger an einem Spielfilm über die ungarische Gräfin Barthory arbeiten?
Wir sprechen darüber, ja, aber wir haben noch nicht begonnen zu drehen.
Der Gräfin Barthory wird nachgesagt, sie habe das Blut von Jungfrauen getrunken. Was reizt Sie an der Figur?
Ich bin seit langem ein Fan von Vampiren und von Vampirfilmen. Einen Vampirfilm von Ulrike Oettinger möchte ich sehen, und ich bin sehr froh, dass ich mit ihr darüber im Gespräch bin.
Was fasziniert Sie an Vampiren?
Unsterblichkeit. Wandel ohne Ende. Unendlichkeit.
Mal abgesehen von den Vampiren – welche Kriterien haben Sie, wenn Sie eine Rolle oder einen Film auswählen?
Ich wähle weder die Rollen noch die Filme aus, sondern die Menschen. Meistens kenne ich sie seit langem, und wir entwickeln die Idee gemeinsam. In 25 Jahren ist es nur fünf oder sechs Mal passiert, dass jemand mit etwas auf mich zugekommen ist, was schon existierte und was, hätte ich nicht zugesagt, jemand anderer gemacht hätte. An erster Stelle steht das Gespräch mit dem Filmemacher: Mag ich ihn? Will ich den Film sehen, den er drehen wird?
Wie war es zum Beispiel bei den Coen-Brüdern, bei Tony Gilroy oder bei David Fincher?
Es war wunderbar, neue Freunde zu finden, zu ihren Partys zu gehen und dann wieder nach Hause zu fahren. Ich mag sie sehr, und ich pflege die Beziehungen. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn ich mit einem Freund am Küchentisch sitze und etwas entwickele, wie ich es mit Luca Guadagnino oder Lynne Ramsay getan habe.
Waren Sie jemals enttäuscht, als Sie den fertigen Film sahen?
Wenn ich als Touristin in der Filmindustrie unterwegs bin, dann gibt es eine Besonderheit. Ich bin ja nur eine Beilage, die aufgetischt und abgeräumt wird, deswegen weiß ich nicht, wie die Gesamtatmosphäre des Films ist. Ich mag eine Ahnung haben und auch Erwartungen, aber ich betrachte diese Filme mit einer gewissen Distanz. Die Coen-Brüder haben mir ihr Projekt sehr genau erklärt, so dass das, was ich im Kino sah, fast genau das war, was ich erwartet hatte.
Und bei David Fincher?
■ Der Film: Mailand kann sehr kalt sein. In den ersten Einstellungen von „I Am Love“ bewegt sich die Kamera durch eine Stadt im Schneetreiben, über Plätze und Magistralen hinweg, bis sie in einem Park zur Ruhe kommt. Hier steht die Villa der Recchis, einer Industriellenfamilie. Tilda Swinton spielt Emma, die vor langer Zeit aus der Sowjetunion eingewanderte Ehefrau des Firmeninhabers. Perfekt passte sie in ihren goldenen Käfig, verliebte sie sich nicht in einen anderen Mann. Der Regisseur Luca Guadagnino versucht sich an einer Neuinterpretation des Melodramas. Das Schwelgen im Luxus steht dabei vielleicht ein bisschen zu offenkundig im Kontrast zur Gefühlsstarre der Recchis.
■ „I Am Love“. Regie: Luca Guadagnino. Mit Tilda Swinton, Alba Rohrwacher u. a. Italien 2009, 120 Min.
In „Benjamin Button“ war ich nicht einmal eine Beilage, sondern ein Brötchen auf einem Extrateller. Als ich den Film sah, war ich fast überrascht darüber, dass ich überhaupt auftauchte. Bei den Filmen, die ich in enger Zusammenarbeit entwickle, gibt es keine Überraschungen, da ich ja in den ganzen Produktionsprozess eingebunden bin. Ich hatte kürzlich ein seltsames Erlebnis. Ich reiste nach New York, um „Orlando“ neu herauszubringen, 18 Jahre, nachdem wir ihn gedreht hatten. Das war bizarr. Da waren wir, 18 Jahre später, und noch immer fühlte sich der Film für mich wie ein work in progress an. Man könnte ihn anders schneiden und ein paar Szenen nachdrehen.
War „Orlando“ ein besonders wichtiger Film für Sie?
Ja. Zum Teil, weil ich bei diesem Film zum ersten Mal so gearbeitet habe, wie ich es Ihnen beschrieben habe. Als wir anfingen, gab es Sally Potter, mich und Virginia Woolfs Roman auf einem Tisch zwischen uns. Kein Drehbuch, keinen Produzenten, kein Geld. Wir haben das wirklich in fünf Jahren gemeinsam aufgebaut, und dann war der Film selbst auch sehr kostbar. Ich hatte vorher schon Hosenrollen, aber noch nie so eine.
In den 80er Jahren kämpften Sie gemeinsam mit Derek Jarman leidenschaftlich gegen die homophobe Politik von Margaret Thatcher. Sehen Sie einen Weg, dieses Engagement in die Gegenwart hinüberzuretten?
Ich möchte nicht nostalgisch klingen, aber es gab damals eine Klarheit, die sich heute verdunkelt hat. Die damalige Aids-Krise war für uns wie ein Krieg. Für die Überlebenden folgte ein Jahrzehnt der Erschöpfung, der Trauer, der Stille und der Verwirrung. Jeder ging auf seine Weise damit um, manche hörten auf zu arbeiten, andere änderten ihre Arbeit komplett, wieder andere verschwanden von der Bildfläche.
Und Sie?
Zog mich zurück und bekam Kinder. Aber ich habe das Gefühl, dass es in den letzten Jahren ein neues Miteinander gibt, eine neue Energie. Ich weiß nicht, ob sie sich durchsetzen wird, aber ich bin optimistisch.