: Kultur muss losgelassen werden
Buchmessern (I): Beim Empfang des Berlin Verlags blickte man nach Frankreich, bei der offiziellen Eröffnung nicht nur nach Indien
Verlegeransprachen sind oft so eine Sache. Manche Pressesprecher gucken zu solchen Anlässen immer ganz bang – mal sehen, wie der Chef das diesmal hinkriegt. Aber beim Berlin Verlag, mit dessen Empfang am Dienstagabend die Messe erst richtig losgeht, ist das anders. Als Arnulf Conrady noch Verlagschef war, wurde, die angelsächsischen Verbindungen des Hauses würdigend, feinstes Oxford-Englisch zelebriert. Elisabeth Ruge, seine Nachfolgerin, führt diese Tradition fort. Ihre diesjährige Ansprache war ein kleines Kunstwerk für sich.
Erst würdigt sie Katharina Hacker, die Buchpreis-Gewinnerin. Dann lässt sie nicht unerwähnt, dass Ingo Schulze ein vielleicht noch besserer Preisträger gewesen wäre, wenn aus dem Buchpreis tatsächlich einmal so etwas wie der deutsche Booker-Preis werden soll – und Elisabeth Ruge zeigt in eine Ecke des Saales im „Frankfurter Hof“, in der Schulze, Autor des Berlin Verlages, steht. Von seinem 800-Seiten-Buch leitet Elisabeth Ruge sodann zu einem 900-Seiten-Buch über, von dem sie sogleich zu schwärmen beginnt, ohne zunächst Anlass und Namen zu nennen. Eine gewaltige Übersetzungsanstrengung stehe dem Verlag bevor, sagt sie, und sie nennt es ein großes, ein bedeutendes Buch. Die Rede ist von Jonathan Littells Roman „Les Bienveillantes“ („Die Wohlwollenden“), der in Frankreich gerade eine Sensation ist und wohl auch demnächst in Deutschland eine werden wird. „Das Buch hätten wir alle gern gehabt“, sagt eine Mitarbeiterin eines anderen Hauses. Tja, scheint Elisabeth Ruges Ansprache auszudrücken, wir haben es – und wir werden mit diesem Kapital sorgfältig umgehen. Damit hat die diesjährige Buchmesse ihre zweite große Neuigkeit, nach dem Buchpreis. Jonathan Littell, 39-jähriger, in Paris lebender Amerikaner, hat mit „Les Bienveillantes“ die fiktiven Memoiren eines SS-Offiziers geschrieben – wenn es auf Deutsch herauskommt, so war nach der Ansprache zu hören, wird die Aufregung um Grass nur ein laues Lüftchen gewesen sein.
Worüber bei diesem Empfang eigentlich nie geredet wird, auch dieses Jahr wieder nicht: die offizielle Eröffnungsveranstaltung. Dabei hätte sie diesmal Beachtung verdient. Die Neuigkeiten um neue Besucher- und Ausstellerrekorde kann man zwar gleich wieder abhaken. Aber die Rede, die Frank-Walter Steinmeier gehalten hat, ist bemerkenswert (nachzulesen unter www.auswaertiges-amt.de). Nach der vom Anlass vorgegebenen Würdigung des Gastlandes Indien als größte Demokratie der Erde kam der Bundesaußenminister grundsätzlich auf den Stellenwert der Kultur zu sprechen. Und während man bei der kulturbeflissenen rot-grünen Vorgängerregierung den Eindruck hatte, alles sei prima, worauf man das Etikett „Kultur“ pappen kann, erwähnt Steinmeier, dass Kultur in Deutschland auch als Mittel der Ausgrenzung funktioniere.
Ein schlichter, historisch unabweisbarer Gedanke. Und doch verschiebt sich vieles, wenn man ihn nur ausspricht. Beispielsweise ist es dann nicht mehr möglich, so naiv mit den Begriffen der Kulturnation und der kulturellen Identität um sich werfen, wie das noch unter der Ägide von Kulturstaatsministerin Christina Weiss geschah. Steinmeier hat sich in sein Redenmanuskript schreiben lassen, dass kulturelle Identität eben kein Schicksal ist, sondern das Ergebnis eines ständigen Prozesses, auch und vor allem eines Prozesses des ständigen kulturellen Austausches. Es gibt, so kann man diese Rede verstehen, keine identifizierbare „deutsche“ Kultur. Insofern verbucht Steinmeier Migration ausdrücklich als „kulturellen Gewinn“, und als Ziel von Politik nennt er die „Erweiterung der kulturellen Möglichkeiten“. Das ist mehr als eine Akzentverschiebung. Kultur, so kann man sich das alles übersetzen, muss nicht „geschützt“, sondern vielmehr losgelassen werden. Ach, das hört sich doch sehr gut an, gerade auf einer Buchmesse.
DIRK KNIPPHALS