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Archiv-Artikel

Fickt euch doch selbst!

GROSSSTADTLITERATUR Der Wedding ist – noch – ehrlich. Und Lesebühnenautor Heiko Werning ist einer der Chronisten des einstigen Arbeiterbezirks. Die taz druckt ein – leicht gekürztes – Kapitel seines gerade erschienen Buches „Im wilden Wedding“

Heiko Werning

■ 1970 in Münster (Westfalen) geboren, ist Mitglied der Lesebühnenautorengang Brauseboys, die seit mehr als zehn Jahren jeden Donnerstagabend im Weddinger Veranstaltungsort La Luz (vor-)lesen. Sein Buch „Im wilden Wedding. Zwischen Ghetto und Gentrifizierung“ ist bei Edition Tiamat erschienen, hat 192 Seiten und kostet 14 Euro. Heiko Werning hat sich zudem einen Namen als Reptilienforscher gemacht. Er schreibt regelmäßig für die taz.

VON HEIKO WERNING

Mein siebenjähriger Sohn kommt aus der Schule nach Hause. Mehr so aus Pflichtgefühl frage ich: „Und? Wir war’s?“ Die obligatorische Antwort darauf lautet nämlich: „Gut“, und damit ist es dann auch gut. Mehr ist aus dem Kind im Regelfall nicht rauszuquetschen. Denn es liegt viel Wichtigeres an: Welcher Skylander gegen wen kämpft etwa, oder ob die Löwenwächter der Lego-Chima-Burg die Krokodile endlich ins Gefängnis werfen können.

Heute allerdings fällt die Antwort überraschend aus: „Wir haben eine Hausaufgabe!“, strahlt Kiran mich an. Das ist insofern ungewöhnlich, weil die Kinder permanent Hausaufgaben bekommen, die sie aber nicht zu Hause machen, sondern im Morgenband in der Schule, eine halbstündige Phase der eigenständigen Freiarbeit, die genau dafür gedacht ist. Hausaufgaben, die explizit zu Hause gemacht werden, sind also ein Sonderfall.

Und das sind sie tatsächlich, wie ich als alter pädagogischer Fuchs auf den ersten Blick erkenne. Denn Kiran hält mir einen kleinen Zettel vor die Nase, auf dem in ungelenken Erstschreiber-Buchstaben drei Ausdrücke untereinander stehen. Nämlich: „Fick dich“, „schwul“ und „pevers“.

Ich schaue ihn fragend an und will im ersten Impuls gleich zu einer ordentlichen Standpauke ausholen. Das sieht mir doch ganz nach einer Strafarbeit aus. Eine Strafarbeit der Art, von der ich ja dachte, so etwas gebe es nur bei den Simpsons oder in launigen Heinz-Rühmann-Filmen aus den Fünfzigerjahren. Wenn die Kinder, weil sie sich nicht wohlgefällig verhalten haben, zwanzig Mal einen Satz schreiben mussten wie: „Ich habe durch mein Verhalten mich und andere gefährdet und werde mich in Zukunft an die Anweisungen des Aufsichtspersonals halten.“ So was eben, was es schon zu meiner Schulzeit in den Siebziger- und Achtzigerjahren längst nicht mehr gab. Dementsprechend war ich doch leicht verwundert, als Kiran vor einigen Wochen etwas zerknirscht abends sein Heft herausholte und zwanzig Mal untereinander den Satz schrieb: „Ich habe durch mein Verhalten mich und andere gefährdet und werde mich in Zukunft an die Anweisungen des Aufsichtspersonals halten.“

Guck mal an, dachte ich. Der Wedding. Da haben sie mich jahrelang vor den Grundschulen hier gewarnt, weil es da drunter und drüber gehe, und dann so was. „Und? Hat er dir wenigstens auch mit dem Rohrstock auf die Handinnenflächen geschlagen?“, wollte ich den Jungen fragen, hielt dann aber doch lieber meinen Mund. Als er fertig mit dem Untereinanderschreiben war, sollte ich unterschreiben. Ich sollte das unterschreiben! Dabei liegt mir nichts ferner, als zu versprechen, mich zukünftig an die Anweisungen irgendeines Aufsichtspersonals zu halten. Da ich aber andererseits kaum etwas verachtenswürdiger finde, als Eltern, die sich ständig in die Arbeit der Lehrer ihrer Kinder einmischen und meinen, überall mitreden zu müssen, sagte ich doch lieber nichts und unterschrieb.

Das war bei uns nämlich auch anders: Da haben die Lehrer noch alles mit den Schülern selbst ausgemacht, und die Eltern haben sich fein rausgehalten. Einmal im Schuljahr war Elternsprechtag, wo sie sich anhören konnten, wie ihr Sprössling sich so machte, und kein Vater und keine Mutter wäre auf die aberwitzige Idee gekommen, sich in Lehrpläne, Erziehungsmethoden, Putzpläne oder Sonstiges einzumischen. Wenn ein Lehrer nach Meinung der Eltern doof oder inkompetent war, dann war er eben doof oder inkompetent. Und wenn sein Unterricht schlecht war, dann war er eben schlecht. So wie das Wetter eben auch immer mal wieder schlecht ist. Da kann man nichts machen, so ist das halt. Was für ein absurder Gedanke, sich da einmischen und über die Lehrmethoden oder -inhalte mitbestimmen zu wollen.

Das war ein Ansinnen, das ausschließlich einigen wenigen, allgemein als wahnsinnig bekannten Eltern vorbehalten war. Etwa Herrn Hänsel, dem christlichen Fundamentalisten, der sich über den Sexualkundeunterricht nicht nur empörte, sondern deswegen auch bei den Lehrern vorstellig wurde. Oder Herr Hendricks, der kommunistische Unterwanderung fürchtete, sobald ein Lehrer mal DDR ohne Anführungszeichen an die Tafel schrieb. Querulanten eben, Irre – so dachte man damals. Und so denke ich auch heute noch. Querulanten und Irre, nur dass es eben nicht mehr einige wenige, namentlich bekannte Vertreter dieser Sorte sind, sondern dass sich große Teile der Elternschaft flächendeckend daraus rekrutieren. Helikopter-Eltern, das können sie meinetwegen ja gerne alle sein. Aber dann bin ich die Flak.

Man mag ja gar nichts mehr zum Prenzlauer Berg schreiben, weil man ja auch nicht auf ein totes Pferd aufsteigt, erst recht nicht auf eines, das schon weitgehend verwest ist, aber von dort berichtete mir ein Gewährsmann aus einer Kita, dass die Eltern sogar über einzelne Komponenten des Speiseplans der Kinder beraten und mitbestimmen. Um die Qualität des Schulessens zu steigern, erklärten sich bei einem Elternabend verschiedene Eltern bereit, selbst etwas zu organisieren. Auch der Vater des einzigen Migrantenkindes der Gruppe, ein asiatischer Gemüsehändler, wollte sich beteiligen und bot naheliegenderweise an, Obst und Gemüse aus seinem Geschäft beizusteuern. Zunächst reagierten die Miteltern begeistert, bis ein Vater die entscheidende Frage stellte: „Aber ist denn das auch bio?“ War es nicht, und damit war der Asiatenvater raus.

So etwas gibt es bei uns im Wedding bislang zum Glück noch nicht. Hier wird noch gegessen, was auf den Schulkantinentisch kommt. Wenn die Kinder auch wenig begeistert sind. Ein beliebter Scherz in der Klasse von Kiran lautet: „Sag mal ein anderes Wort für Kotze!“ Die richtige Antwort lautet dann: „Schulmensa-Essen“, und alle umstehenden Kinder stecken dann demonstrativ den Finger in den Hals. Aber so ist es eben. Und wenn sie zwanzig Mal aufschreiben müssen, dem Personal zu gehorchen, dann müssen sie das eben zwanzig Mal aufschreiben. Ich habe mir kurz erklären lassen, was denn da los gewesen ist, dachte „ja, nun“, sagte „ja, nun“, ergänzte pflichtgemäß noch: „aber mach’s nicht wieder“ und unterschrieb.

Aber wenn Kiran jetzt zwanzig Mal „Fick dick“, „schwul“ und „pevers“ aufschreiben muss, werde ich doch misstrauisch. Was ist denn da los an der Schule? Ich gucke meinen Sohn also streng an, hole tief Luft – der Kleine duckt sich ängstlich weg, in der Deutung von Körpersprache ist er schon ganz gut –, dann platzt es aus mir heraus: „Pervers! Perrrrvers! Das schreibt man mit „r“, verdammte Scheiße!“ Der Kleine guckt mich erschrocken an, wispert: „Oh, Entschuldigung, Papa“, dann korrigiert er das Wort hastig. Na also. Damit bin ich meiner erzieherischen Pflicht also schon mal verantwortungsbewusst nachgekommen. Man darf den Kindern eben nicht alles durchgehen lassen, sonst führen sie einen später am Nasenring durch die Manege.

Nach der pädagogischen Pflicht kommt aber nun die Kür: „Ich habe dir doch oft genug gesagt, du sollst nicht alles nachplappern, was Mehmet so sagt“, ermahne ich ihn. Er dementiert empört. Er habe die Wörter gar nicht gesagt. „Und warum musst ausgerechnet du sie dann abschreiben?“ „Aber das muss ich doch gar nicht alleine! Das müssen alle!“ „Wie jetzt? Ihr müsst alle zwanzig Mal ‚Fick dich‘ schreiben?“, zeige ich mich nun doch etwas erstaunt. „Das müssen wir doch nicht zwanzig Mal schreiben! Das mussten wir nur einmal abschreiben. Von der Tafel. Damit wir Euch fragen, was das heißt. Das müssen wir dann aufschreiben und morgen im Unterricht erklären. Das ist die Hausaufgabe!“

Ich schaue meinen Sohn verblüfft an. Gut, klar, die Lehrpläne müssen von Zeit zu Zeit modernisiert werden. Auch Schule muss mit den Anforderungen der Gegenwart Schritt halten. Aber echt – so?

„Du meinst, alle Kinder aus eurer Klasse müssen ihre Eltern fragen, was ’Fick dich’ und ’schwul’ heißt?“

„Ja.“

„Alle?“

„Ja.“

„Auch Ayshe? Mit der Kopftuchmutter?“

„Ja. Das ist, weil einige Kinder das immer sagen. Und da hat Frau Bernstein eben gefragt, ob wir überhaupt wissen, was das heißt. Und das konnten die dann nicht erklären. Und da hat Frau Bernstein gesagt, wir müssen es aufschreiben und zu Hause nachfragen.“

Ich kichere. Viel zu wenig wird ja die hervorragende Leistung, die unsere Kita-Erzieher und Grundschullehrer im Ganzen leisten, gewürdigt. Ich aber will sie preisen und von ihr künden, wann immer ich kann. Was für eine wunderbare Idee! Die Vorstellung, wie 26 Erstklässler sich jetzt von ihren Eltern erklären lassen, was dieses „Fick dich“ eigentlich genau heißt, dass sie da dauernd sagen, erwärmt mein Herz und macht mir dermaßen gute Laune – da werde ich noch lange von zehren.