Gesundheit kontra Marktchancen

Europaparlamentarier betrachten neue Atompolitik Russlands mit gemischten Gefühlen

BRÜSSEL taz ■ Sie heißen Bilibino II oder Kola I, ihr Geburtsjahr ist 1974. Vor zwei Jahren hätten sie eigentlich verschrottet werden sollen. Doch der staatliche Monopolbetreiber Rosenergoatom hat für sieben AKW, deren Laufzeit nach 30 Jahren Betriebsdauer enden sollte, eine Laufzeitverlängerung um 15 Jahre erhalten. Für weitere sechs Reaktoren, die zum Ende dieses Jahrzehnts hätten abgeschaltet werden sollen, sind Verlängerungen von bis zu 30 Jahren geplant. Was ist da los? Das wollten die EU-Parlamentarier in Brüssel wissen und luden zu einer öffentlichen Anhörung.

Vertreter der in Oslo ansässigen Bellona-Umweltstiftung bemängelten, die russischen Behörden hielten sich nicht an geltende Vorschriften. Das russische Recht verlange für Laufzeitverlängerungen eine Lizenz der nationalen Atomaufsichtsbehörde Gostekhnadzor. Die Lizenz könne nur erteilt werden, wenn der Betreiber ein technisches Gutachten über die Umweltauswirkungen vorlege. Das habe es bei keiner der erteilten Genehmigungen gegeben. Alexander Nikitin, Direktor der russischen Zweigstelle von Bellona, fragte: „Warum wurde eine Verlängerung von fünfzehn Jahren genehmigt? Warum nicht 18 Jahre oder zwölf? Weil man den Technikern vorher mitgeteilt hatte, zu welchem Ergebnis sie kommen sollen.“

Seit Anfang 2005 gebe es in Russland ein neues Gesetz, das Informationen über AKW als geheim einstufe, sagte Nikitin. Damit werde jede öffentliche Auseinandersetzung erstickt.

Der Hintergrund: Der russische Präsident Wladimir Putin hatte beschlossen, im Jahr 2030 ein Viertel des Energiebedarfs aus Atomkraft zu decken.

In der Europäischen Union werden die Vorgänge mit gemischten Gefühlen betrachtet. Nach dem Tschernoby-GAU waren es europäische Steuergelder aus dem TA-CIS-Programm, mit denen die russischen AKW auf einen besseren technischen Standard gepäppelt wurden. Sie sollten so lediglich das Ende ihrer ursprünglich geplanten Laufzeit ohne Havarie erreichen.

Andererseits möchte die EU weiter Gas aus Russland beziehen. Das Interesse ist deshalb gering, dass Russland seine eigene Versorgung von Atomenergie auf Gas umstellt.

Seit 2001 treffen sich europäische und russische Experten regelmäßig zu Arbeitsgesprächen, um über eine mögliche Abschaltung der Reaktoren der ersten Generation zu verhandeln. Die EU bietet Euratom-Kredite für den Bau neuer AKW an. „Diese Möglichkeit wird von russischer Seite nicht sonderlich geschätzt“, berichtete Ignacio Lopez von der Abteilung Nuklearsicherheit bei der EU-Kommission.

Sein Kollege Jean-Paul Joulia ergänzte, die EU könne keinen Strom aus russischen AKW beziehen, ohne auf Mindeststandards für Umwelt und Sicherheit zu bestehen. Dabei sorgt er sich weniger um die Gesundheit der Bürger als um faire Marktchancen: Wer keine Sicherheitsauflagen beachten muss, kann den Strom billiger auf den Markt bringen als die Konkurrenz.

DANIELA WEINGÄRTNER