: Die Ausdehnung der Tatnacht
Die Geschichte wiederaufführen: Die Videoarbeiten der belgischen Künstlerin Ana Torfs befragen das historische Gedächtnis. In „Anatomy“ in der daad-Galerie geht es um die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht
Am 15. Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Bürgerwehrverbänden aufgegriffen, im Berliner Hotel Eden vom Freikorps verhört, misshandelt und während ihres Transports ins Untersuchungsgefängnis Moabit ermordet. Noch bevor Luxemburgs halb verweste Leiche im Juni 1919 aus dem Landwehrkanal geborgen werden konnte, fand im Mai ein Prozess statt, der später eine „Justizkomödie“ getauft wurde. Mit diesem Prozess beschäftigt sich die belgische Künstlerin Ana Torfs.
Die Tat war – wahrscheinlich in Rücksprache mit SPD-Reichswehrminister Gustav Noske – von dem Leiter der Kavallerie-Schützen-Division Waldemar Papst angeordnet worden. Beide blieben von dem untersuchenden Militärgericht unbehelligt. Zwei der Angeklagten wurden zu geringen Gefängnisstrafen verurteilt, sechs weitere freigesprochen. Bereits die amtlichen Darstellungen der Tatnacht waren verfälscht worden. In seinem Plädoyer hatte der Anklagevertreter Jorns von einem „Akt von Lynchjustiz, wie er bis dahin in Deutschland noch nicht vorgekommen war“, gesprochen. In den Folgejahren sollten sich die Übergriffe der solchermaßen von der Justiz legitimierten Freikorps mehren. Die von Adolf Hitler 1921 gegründete „Sturmabteilung“ SA bestand ursprünglich aus Mitgliedern von Freikorps und Bürgerwehrverbänden.
Während ihres DAAD-Stipendienaufenthalts in Berlin begann Ana Torfs den bis heute nicht restlos geklärten Morden an Luxemburg und Liebknecht nachzugehen. Im Militärarchiv in Freiburg im Breisgau konnte sie die Wortprotokolle der Hauptverhandlung vom Mai 1919 einsehen. Aus den teils widersprüchlichen, oft einsilbigen Aussagen von Zeugen und Angeklagten hat sie ein Drehbuch zusammengestellt und von 25 zumeist jungen SchauspielerInnen sprechen lassen. Im schlichten Hemd vor grauem Grund blicken sie gerade in die Kamera und wiederholen (erfreulich unkommentierend) die historischen Statements – und mit fortschreitender Dauer auch „sich selbst“.
Torfs penible Nachforschungen und ihr Arrangement von Fragen und Antworten erzeugen eine bis an die Schmerzgrenze getriebene Ausdehnung der Tatnacht und des Mordens. Auf zwei Monitoren laufen die Videoaufzeichnungen und erinnern an Einzelverhöre: Während eine Person spricht, „erwartet“ auf dem benachbarten Bildschirm die nächste scheinbar ungerührt ihren Auftritt. Mit dieser unaufgeregt-kühlen Präsentation scheint Torfs den historischen Prozess tatsächlich zu sezieren – eine Ambition, auf die auch der Titel ihrer Installation verweist: „Anatomy“.
In einer wandfüllenden Dia-Projektion stellt sie den Akteuren ein stummes Publikum gegenüber: Auf den Tribünen des Anatomischen Theaters der Berliner Charité fotografierte Torfs siebzehn bekannte Gesichter – darunter Therese Affolter, Matthias Matschke und Horst Westphal. Die eindrucksvolle Kulisse dieses Ortes, die Wahl der Schauspieler und die in Sepia gehaltenen Bilder zeugen von einem Willen zur Bildgestaltung, der zwar atmosphärisch viel transportiert, aber auch vom Wesentlichen abzulenken scheint – zumal das von einigen der renommierten Schauspieler vorgetragene Pathos der Arbeit Torfs eine Unze ihrer Schärfe nimmt.
Warum sie diese Gegenüberstellung gewählt hat, erschließt die Künstlerin selbst in einem schönen Katalogtext: Die Inszenierung anatomischer Untersuchungen des 17. Jahrhunderts haben als „fiktionales Theater“ gewirkt – dafür wurde der Anatomie-Vorlesungssaal der Charité gebaut. Sie finden ihren verdrehten Widerpart in dem absurden Schauprozess um die Morde an Luxemburg und Liebknecht, der an Stelle der Aufklärung die Verschleierung inszenierte.
GLORIA ZEIN
Ana Torfs in der daadgalerie, Zimmerstraße 90/91, täglich außer So. 11–18 Uhr, bis 4. November 2006