: Der Winter wartet nicht
AUS BATTAGRAM BERNARD IMHASLY
Nur der Basar mit seinen zusammengepferchten Holzhäusern und Läden hat das Beben besser überstanden. Sonst steht kaum noch ein Stein auf dem anderen, was zu eigenartigen Bildern führt. Von einem Gebäude steht noch eine Wand des Tresorraums, mit dem schweren Eisentor und dem Kassenschrank dahinter, zwei surreale Skulpturen in einem Trümmerhaufen. Denn die Steinbauten der Distriktverwaltung wie auch das Kreiskrankenhauses der Kleinstadt wurden vollständig zerstört. Battagram liegt am Karakorum-Highway, der Pakistan mit der chinesischen Provinz Sinkiang verbindet. Sie ist rund fünfzig Kilometer vom Epizentrum des Erdbebens entfernt, das am Morgen des 8. Oktober 2005 diese Region in Nordpakistan verwüstet hatte. Rund 75.000 Menschen kamen dabei ums Leben, über 3 Millionen Menschen wurden obdachlos. Der Bezirk Battagram gehörte zu den am stärksten betroffenen Zonen.
Noch heute wohnen die meisten Geschädigten in Battagram in Notbehausungen. Ihnen wurde zwar unmittelbar nach dem Beben rasch geholfen: Der Winter stand unmittelbar bevor, und es gelang auch dank einer milden Jahreszeit und des massiven Einsatzes vieler Hilfswerke und NGOs, die Zahl weiterer Opfer unter den 2,5 Millionen Menschen im Erdbebengebiet äußerst niedrig zu halten – es kamen weniger Kinder wegen Unterernährung und Erkrankungen ums Leben als in früheren Jahren. Ende März 2006 wurden die Notlager offiziell geschlossen, die Mehrzahl der Geflüchteten kehrten in ihre Dörfer zurück in der Hoffnung auf einen raschen Wiederaufbau. 175.000 Rupien (umgerechnet rund 3.000 Euro) hatte die Regierung jedem Hausbesitzer dafür versprochen. Die Hoffnung verflüchtigte sich aber rasch.
Bürokratie vor Hausbau
Zwar erhielten alle Haushalte 25.000 Rupien Soforthilfe, und Hausbesitzer bekamen auch eine erste Tranche von 50.000 Rupien für den Wiederaufbau ihrer Gebäude. Doch nun meldete sich, im Namen der Erdbebensicherheit, die staatliche Bürokratie. Nur sie erteilt die Bewilligung für einen sicheren Standort. Zudem wird die Hauptsumme von 100.000 Rupien nur ausbezahlt, falls die neuen Häuser erdbebengeschützt nach den Richtlinien der Earthquake Reconstruction and Rehabilitation Authority (Erra) in Islamabad gebaut sind. Sie koordiniert und kontrolliert den ganzen Wiederaufbau in Pakistan.
Doch die wenigsten Maurer und Zimmerleute haben von erdbebenschützenden Techniken und den Erra-Vorgaben gehört, und schon gar nicht die große Mehrzahl derjenigen, die ihre Häuser selber bauen. Inzwischen drängt die Zeit für die Leute in den Notunterkünften – es steht der zweite Winter bevor, und dieser wird kaum mehr so warm ausfallen wie der letzte.
Um die Umsetzung der Erra-Vorgaben bei dem riesigen Unterfangen, rund 600.000 Häuser neu zu errichten, kümmern sich elf so genannte Housing Reconstruction Centres (HRC) im Erdbebengebiet. Sie sind Ausbildungszentren für den Bau erdbebengeschützter Häuser und sollen sicherstellen, dass alle Menschen in der seismisch hyperaktiven Region künftig relativ sicher wohnen können. Die HRCs werden von drei internationalen Hilfsorganisationen geführt, der schweizerischen Deza, der deutschen GTZ und der UN-Habitat. In den Zentren werden Partnerorganisationen aus jedem Bezirk in dreitägigen Kursen ausgebildet, um dann ihrerseits in Trainingsstätten lokale Handwerker und Selbstbauer in Techniken für besseren Erdbebenschutz zu unterrichten.
Drei Monate vor Wintereinbruch macht das HRC in Battagram allerdings eher den Eindruck eines Campingplatzes in der Nachsaison als eines hektisch arbeitenden Trainings- und Beratungszentrums. Die Zelte und Baracken stehen leer, und die Ausbilder hatten offenbar Zeit, die Wege zwischen den Zelten mit Fliesen auszulegen. Kleinen Zäune und das Gras dahinter erwecken den Eindruck von Himalaja-Schrebergärten. „Vor einem Monat wollten wir das Zentrum schließen“, bekennt Tom Schacher, der das HRC von Battagram für die Deza leitet. „Wir hatten keine Kunden mehr.“ Es gibt zu wenig lokale Partner, erklärt Schacher, welche sich als Trainer ausbilden lassen konnten – die Folge der Politik der Regierung, möglichst wenige ausländische NGOs in der politisch heiklen Region nahe an Kaschmir zu dulden. „Die Armee musste einspringen und Offiziere und Soldaten zur Ausbildung für erdbebensicheres Bauen delegieren! Die meisten unserer Partner hier sind lokale Militäreinheiten“, so Schacher weiter.
Es ist nicht der einzige Engpass, der sich den Hilfsorganisationen in den Weg stellt. Noch gibt es wenig Straßen, um Zement und Stahl in abgelegene Gebiete zu transportieren. Bauern und Handwerker, meist Analphabeten, lassen sich zudem ungern von Soldaten, meist Laien im Bauen, mit neuen Materialien und Techniken bekanntmachen. Deza, GTZ und UN-Habitat, zu Dienststellen der militärisch geführten Erra verdammt, haben zudem keine Möglichkeit, mit anderen Formen sicheren Bauens zu experimentieren. „Es gibt Gegenden in Pakistan, wo die Leute beim Bau mit Holz und Trockenmauern einen relativ guten Erdbebenschutz erreichen“, meint Tom Schacher. „Doch die Erra erlaubt kein Fällen von Bäumen, weil sie Angst hat, Umweltschutzgesetze zu verletzen.“ Selbst dort, wo die Deza selbst lokale Handwerker-Trainings durchführt, wie im Shamlai-Tal, steht das Ausbildungszentrum daher noch immer nicht. Gäbe es nicht eine neue gemauerte Wasserleitung durch das Dorf Bauser, man könnte meinen, das Erdbeben sei erst einen Tag her. Zerstörte Mauerteile liegen aufeinander, Holzbalken ragen aus kaputten Fensterrahmen heraus, Leitungsmäste liegen verbogen auf den Dächern. Solange die Erra nicht entschieden hat, darf nicht gebaut werden.
Die meisten Bewohner von Bauser haben sich unterdessen von der Wiederaufbauhilfe Notbehausungen errichtet, die weder erdbeben- noch wintersicher ist. „Einige Familien denken daran, für den Winter in eines der Flüchtlingslager zu ziehen“, sagt ein Gemeinderat.
Noch immer existieren zehn Lager in den Bezirken Mansehra und Battagram. Sie beherbergen zum großen Teil Bauern ohne eigenen Landbesitz, erzählt die Journalistin Naghma Imdad. Beide Bezirke weisen eine hohe Zahl von „Khans“ aus, kleinen Dorfkönigen, die große Teile des Landes besitzen, erklärt sie. Für viele war das Erdbeben eine Gelegenheit, ihre Pächter loszuwerden. „Nach dem Gesetz erhalten die Bauern nach einer Anzahl von Pachtjahren ein permanentes Wohn- und Bewirtschaftungsrecht. Als sie nach dem Beben ihr Land verließen, haben die Khans dieses wieder in Besitz genommen. Sie sind es auch, die heute im Namen des Wiederaufbaus ihrer Häuser die meisten Gelder abschöpfen.“ In Shamlai allerdings ist der lokale Khan „zum Glück ein vernünftiger Mann“, sagt der Deza-Mitarbeiter Suleyman. Fayaz Khan ist zudem der Präsident der Talschaft und setzt sich für die Auszahlung der Baugelder für seine rund 200 Pächter ein.
Äcker wieder grün
Dass die meisten Bewohner von Shamlai dem Winter dennoch trotzen dürften, verdanken sie den Programmen zur ökonomischen Überlebenssicherung. „Wir sind froh, dass die HRCs nicht die einzige Komponente unserer Arbeit hier sind“, sagte der Koordinator für die Humanitäre Hilfe, Edwin Brunner. Die Deza hat ihre Hilfe so angelegt, dass sie in eine langfristige Verbesserung der Lebensgrundlagen übergeht. In Battagram und im Shamlai-Tal erhielten 3.800 Bauern Saatgut und Dünger. Trotz der verspäteten Aussaat stehen die Äcker auf den Bergterrassen wieder im üppigen Grün von Weizen- und Maisstängeln. Zudem schafften die Hilfsorganisationen Ochsen für die Bauern an. Deren alte Tiere waren meist beim Beben umgekommen oder im Winter notgeschlachtet worden. Probleme kündigen sich aber für die Winterernte an, die auf Bewässerung angewiesen ist. Die Wasserversorgung ist weitgehend zusammengebrochen, sagt der lokale Deza-Sachverständige Suleyman, und „die Kanäle sind verschüttet. Zudem sind viele Brunnen ausgetrocknet, weil sich die unterirdischen Wasseradern geschlossen oder verschoben haben.“