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Archiv-Artikel

Eine Mausefalle wartet in der Obstschale

FILMTRILOGIE Der schottische Filmemacher Bill Douglas hatte eine harte, bittere Kindheit. Über seine Erlebnisse drehte er in den 70er Jahren drei beeindruckende Schwarz-Weiß-Filme. Sie sind jetzt wieder im Kino zu sehen

Ein Mann, der Jamie eine Münze zusteckt, soll angeblich sein Vater sein

VON DIETMAR KAMMERER

Mit mehr Ironie und Bitterkeit hätte Bill Douglas seine filmische Autobiografie in drei Teilen nicht betiteln können. „My Childhood“ erzählt vom Aufwachsen eines Jungen, dem eine Kindheit nicht vergönnt ist. In „My Ain Folk“ („Meine eigenen Leute“) lernen wir eine Familie kennen, die das uneheliche Kind nicht akzeptiert. Zuletzt verlässt er in „My Way Home“ endgültig die Straßen seines Dorfs, um seine wahre Heimat in der Ferne zu finden: in der Kunst, im Theater, im Film. Aber bis dahin ist es ein steiniger Weg.

Douglas, 1937 in einem schottischen Bergarbeiterdorf geboren, 1991 verstorben, hat in den Minen gearbeitet, bevor er beschloss, nach London zu ziehen und Schauspieler zu werden. 1972 beginnt er die filmische Aufarbeitung seiner Herkunft. Er kehrt in sein Dorf zurück, rekrutiert Laienschauspieler. Den damals 11-jährigen Stephen Archibald, der sein Alter Ego Jamie spielen wird, lernt er an einer Bushaltestelle kennen, als dieser die Schule schwänzt und den Filmemacher um eine Zigarette anschnorrt.

Zugezogene Vorhänge

Die Trilogie beginnt 1945, kurz vor Ende des Krieges. Jamie lebt zusammen mit seinem älteren Cousin Tommy bei der Großmutter unter erbärmlichsten Bedingungen in einem Zimmer. Zu essen gibt es wenig. Jamie sammelt Kohlestücke von den Halden der Mine, damit sie heizen können. Ein Mann, der Jamie eine Münze zusteckt, soll angeblich sein Vater sein. Der Mann lebt einige Straßen weiter mit Frau und Kind. Als Jamie dort anklopft, werden die Vorhänge zugezogen. Die Mutter ist in einer Nervenklinik untergebracht. Als die Großmutter stirbt, kommt Tommy in ein Heim.

Douglas’ Filme wirken wie aus der Zeit gefallen. Erzählt wird in knappen, zurückgenommenen Schwarz-Weiß-Bildern mit einer zumeist fixen Kamera. Gesprochen wird wenig, erklärt noch weniger. Aus der Kargheit der Mittel erwächst eine ganze Welt. Keiner der Filme dauert viel länger als eine knappe Stunde, aber man erfährt in ihnen alles, was man wissen muss, über das Leben von Jamie. Ganze Episoden werden in einer einzigen Einstellung, einer Geste oder einem Wort komprimiert. Wie die Erinnerung an eine ferne Vergangenheit, setzt der Film Schlaglichter auf isolierte Ereignisse, auf starke Momente, in denen sich konzentriert, was wesentlich ist. Dass der Krieg irgendwann zu Ende geht, ist für Jamie belanglos und ist es auch für den Film. Wichtig ist, dass sein einziger Freund, der deutsche Kriegsgefangene Helmut, der als Erntehelfer auf den Äckern schuftet, Schottland verlassen muss.

Die Trilogie zeigt ohne Sentimentalität die Perspektive eines Kindes auf eine Welt, die selbst ohne die Not des Krieges, ohne den Hunger, die Kälte und den Schmutz kein freundlicher Ort wäre. Unter den Bewohnern des Dorfs herrscht eine Atmosphäre aus Apathie, Boshaftigkeit und Rachsucht. Nachdem die Großmutter gestorben ist, wird Jamie in „My Ain Folk“ widerwillig bei seinem leiblichen Vater und dessen Mutter untergebracht. Die behandelt ihren Hund besser als den unwillkommenen Enkel. Als Jamie einmal ohne Erlaubnis einen Apfel nimmt, um ihn einem kranken Mann zu bringen, legt die Großmutter eine Mausefalle neben das Obst in die Schale.

Die zweite Geburt

Der klamme Realismus der Trilogie betrachtet die Welt wie durch eine gebrochene Linse. Vieles, was der Junge erlebt und sieht, ist erschreckend und verstörend, aber es gleicht dem Schrecken, der Verwirrung und dem Geheimnis des Märchens, das von bösen Stiefmüttern und prügelnden Vätern bevölkert ist. Und in dem in unerwarteten Momenten die Hoffnung auf ein besseres Leben aufscheint. Den Glauben daran muss Jamie gegen den Widerstand seiner Umwelt durchsetzen: „Wenn du zu etwas Besonderem bestimmt wärst, wärst du als etwas Besonderes auf die Welt gekommen.“

„My Way Home“, entstanden sechs Jahre nach den ersten beiden Filmen, erzählt von dieser zweiten, besseren Geburt. Davon, wie Jamie während des Wehrdiensts in Ägypten erst einen Freund, dann seine wahre Heimat in der Kunst findet. Douglas beendet die Abrechnung mit seiner Kindheit mit einem Neuanfang: die Geburt des Künstlers aus der Helligkeit und der Leere der Wüste.

■ „My Childhood“, Großbritannien 1972, 48 Min. ■ „My Ain Folk“, Großbritannien 1973, 55 Min. ■ „My Way Home“, Großbritannien 1978, 72 Min., Regie jeweils Bill Douglas, ab 27. 10. im fsk-Kino