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Archiv-Artikel

Erster Sieger: der Vollbart

AMERICAN PIE In der heute beginnenden World Series zwischen Texas und San Francisco sind die beiden besten Baseball-Pitcher der Welt zu bestaunen – und ein Weltklassebekloppter

Brian Wilson ist nicht so musikalisch wie der berühmte Beach Boy – aber ebenso verrückt

VON THOMAS WINKLER

Einer immerhin hat schon gewonnen. Bevor die World Series überhaupt begonnen hat, weiß Bengi Molina bereits, dass am Ende ein neuer Ring seine Schmuckkollektion ergänzen wird. Die mit Edelsteinen besetzten Erinnerungsstücke werden alljährlich für die Titelgewinner der Major League Baseball (MLB) geschmiedet. Molina hat bereits vor acht Jahren eins der traditionell sehr klobigen Exemplare bekommen, als er mit den Anaheim Angels beim Saisonhöhepunkt siegreich war. Nun steht der Puerto-Ricaner wieder in der Endspielserie, allerdings als Angestellter der Texas Rangers. Weil er aber bis Ende Juni noch beim Finalgegner, den San Francisco Giants, beschäftigt war, wird der Catcher auf jeden Fall einen Siegesring erhalten – selbst wenn er mit seiner aktuellen Mannschaft verliert.

Dem Rest der gut vier Dutzend Profis, die ab heute Nacht um die wichtigste Trophäe im Baseball streiten, geht diese Gewissheit allerdings ab. Klar, man weiß im Sport selten, wie’s ausgeht. Diesmal aber geraten schon die Prognosen schwieriger als sonst in der 107-jährigen Geschichte der World Series. Denn weder San Francisco noch Texas hätte man noch vor wenigen Wochen zugetraut, überhaupt so weit zu kommen, ein Favorit ist beim besten Willen nicht auszumachen.

Auch sonst sind sich beide Mannschaften sehr ähnlich. Beide Kader sind gespickt mit Profis, die anderswo entlassen wurden, die als schwierig gelten oder abgeschrieben waren. Beide Teams haben durchschnittliche Hitter und Probleme in der Offensive, aber dafür herausragende Defensivkünstler. Eins vor allem verbindet Giants und Rangers: das Pitching.

Auf dem Wurfhügel, da sind sich die Experten einig, wird diese World Series entschieden werden. Und gleich im ersten Spiel heute, im zugigen, direkt an der San Francisco Bay gelegenen Stadion der Giants werden die beiden momentan vielleicht besten Pitcher der Welt gegeneinander antreten. Vor allem Cliff Lee, den die Rangers erst im Juli verpflichten konnten, hat zuletzt überragend geworfen. Ohne den 32-Jährigen hätten die Rangers die Finalserie kaum erreicht. In der stand Lee schon im vergangenen, damals aber noch im Trikot der Philadelphia Phillies, für die er eine makellose Bilanz ablieferte: Aber trotz seiner beiden souverän herausgeworfenen Siege verloren die Phillies die World Series gegen die New York Yankees.

Genugtuung verschaffte sich Lee nun mit den Rangers: Im Halbfinale bezwangen sie die Yankees. Der gescheiterte Titelverteidiger wird auf das unerwartete Ausscheiden wohl so reagieren, wie es sich für den Branchenkrösus ziemt: mit einem Haufen Geld. Damit werden die Yankees versuchen, den nach der World Series vertragslosen Lee nach New York zu locken. Spekuliert wird, dass Lee einen doppelt so gut dotierten Vertrag erhalten könnte wie C. C. Sabathia. Der aktuell beste Pitcher der Yankees, ein guter Kumpel von Lee aus gemeinsamen Zeiten bei den Cleveland Indians, verdient in sieben Jahren schlappe 161 Millionen Dollar. Aber auch die Rangers wollen Lee nicht so einfach ziehen lassen. Es bahnt sich ein großes Wettbieten an.

Doch erst einmal will Lee die World Series gewinnen. Das will allerdings auch Tim Lincecum, der heute sein Gegner auf dem Wurfhügel ist. Der hat mit 26 Jahren schon zweimal den Cy Young Award als bester Pitcher der National League gewonnen und nach einer Durststrecke während dieser Saison seine überragende Form wiedergefunden.

Dabei widerlegt Lincecum bei jedem seiner Auftritte althergebrachte Baseballweisheiten: Für einen Pitcher eigentlich viel zu schmal gebaut, wirft er trotzdem unglaublich hart. Seine Wurfbewegung ist unkonventionell, ein Wirbel aus dünnen Armen, dünnen Beinen und langen schwarzen Haaren. Von den Experten wurde „The Freak“, wie Lincecum genannt wird, nur eine kurze Karriere vorhergesagt: Sein Wurfstil sei zu extrem, sein fragiler Körper würde schnell kapitulieren. Doch das Gegenteil scheint der Fall: Lincecum, der von der Polizei schon mal mit Marihuana aufgegriffen wurde, macht selbst auf dem Wurfhügel unter großen Druck einen immer entspannten Eindruck.

Damit ist er genau das Gegenteil von Brian Wilson. Der wirkt stets, als wäre er auf dem Weg in eine Gummizelle. Trotzdem könnte er, wenn sich Lee und Lincecum neutralisieren, zum entscheidenden Mann des Auftaktspiels avancieren. Denn Wilson ist der Closer der Giants. Er kommt ins Spiel, wenn es auf Messers Schneide steht. Er ist ein Spezialist, der einen knappen Vorsprung ins Ziel bringen muss. Das bedeutet: nur wenige Würfe, aber die unter größtmöglichem mentalem Druck.

Die Folge: Closer sind oft das, was man im Fußball den Linksaußen oder Torhütern nachsagt, nämlich nicht ganz dicht. Und Wilson ist ein herausragender Vertreter seiner Zunft. Er ist zwar bei weitem nicht so musikalisch wie sein berühmterer Namensvetter, der kreative Kopf der Beach Boys, aber dafür fast ebenso verrückt. Er trägt einen Irokesenschnitt und behauptet, ihm sei im Traum enthüllt worden, er sei ein „zertifizierter Ninjakrieger“. Im Spiel drohen ihm die Augäpfel aus dem Kopf zu fallen, so böse starrt er die Gegner an.

Seit August trägt Brian Wilson auch noch einen wilden, tiefschwarz gefärbten Bart. Mit dem Dickicht am Kinn vermittelt der 28-Jährige einen noch furchterregenderen Eindruck. Die meisten Teamkollegen lassen nun aus Solidarität ebenfalls ihr Gesichtshaar unkontrolliert sprießen, immer mehr Giants-Fans sitzen mit Theaterbärten in den Rängen, andere halten selbst gemalte Schilder hoch mit der Drohung: „Fear The Beard!“ Neben dem Gewinner Bengie Molina steht also auch schon ein erster Verlierer dieser World Series fest: die gepflegte Rasur.