: „Der Täter muss sich verändern wollen“
Ohne Druck von außen beginnt kaum ein Sexualstraftäter eine Therapie, sagt Psychotherapeut Jürgen Lemke. Die Erfolgsquote sei relativ hoch: Viele Klienten hätten sich anschließend wesentlich besser unter Kontrolle
taz: Herr Lemke, sind Sexualstraftäter grundsätzlich therapierbar?
Jürgen Lemke: Nicht alle, aber versuchen muss man es mit jedem.
Gilt das auch für notorische Sexualstraftäter?
Es gibt Täter, die nur durch triebdämpfende Medikamente in Verbindung mit erstklassiger Psychotherapie zu behandeln sind. Aber die Täter, die bei „Kind im Zentrum“ (KiZ) ankommen, haben in der Regel nicht so eine schwerwiegende Dynamik wie Triebtäter, die zum wiederholten Mal ein Kind in ihre Gewalt bringen und vergewaltigen.
Die Therapie für verurteilte Sexualtäter bei KiZ, einer Einrichtung des evangelischen Jugendförderwerks, dauert etwa zwei Jahre. Was passiert dabei?
Voraussetzung ist: Der Täter muss sich verändern wollen. Wir beginnen mit drei Monaten Einzeltherapie, in der der Klient die Verantwortung für seine Straftaten übernehmen muss. Daran schließt sich eine Gruppentherapie an, worin dem Klienten sein Tatzyklus – von der Planung des Übergriffs über die Ausführung bis hin zur Planung der nächsten Tat – offenkundig gemacht wird. Weiterhin geht es für ihn um die Entwicklung von Empathie für das Opfer und um handhabbare Strategien zur Selbstkontrolle, um nie wieder rückfällig zu werden.
Wie soll das gehen?
Dass ein Pädophiler sein sexuelles Begehren auf Kinder richtet, können wir nicht korrigieren. Es geht unter anderem darum, dass er begreift, was er Kindern damit antut. Die meisten Pädophilen sagen: Die Kinder wollen das doch. Diese Rechtfertigungsstrategie versuchen wir zu zertrümmern. Ich sage immer, das größte Sexualorgan ist das Gehirn. Ziel der Therapie ist, sich Ausweichmöglichkeiten aufzubauen, bestimmte Orte und Kontakte zu meiden. Eine Möglichkeit ist, Beziehungen – auch sexueller Natur – mit jungen Erwachsenen einzugehen, die nicht mehr unter das Strafgesetz fallen.
Wie hoch ist die Erfolgsquote von KiZ?
Bis zu 80 Prozent der Täter haben nach einer Therapie eine andere Beziehung zu sich, ihr Kontroll- und Steuerungsvermögen ist entwickelt. Aber ich habe auch schon zu therapiewilligen Leuten sagen müssen: „Es geht nicht. Bitte begeben Sie sich in eine Klinik.“ Einige habe ich auch schon in die neue Präventionseinrichtung der Charité überwiesen.
Was halten Sie von dem Präventionsprojekt der Charité?
Sehr viel. Vorausgesetzt, es entwickelt sich so gut weiter. Bisher waren Pädophile doch mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Die Notwendigkeit der therapeutischen Hilfe wird erst seit wenigen Jahren anerkannt. KiZ ist da eine große Ausnahme.
Auch die Nachsorge-Ambulanz in Tegel hatte anfangs viel Gegenwind.
Wer will schon Kinderficker, wie es im Volksmund heißt, in seiner Wohngegend haben? Die Einrichtung der Ambulanz in Tegel war dringend nötig. KiZ, Charité, Ambulanz und die Sozialtherapeutische Anstalt in der JVA Tegel – das kann sich im Verbund schon sehen lassen. Wenn es gut geht, ist damit der Grundbedarf gedeckt.
Was geschieht mit Tätern, die keine Therapie machen wollen?
Seit wenigen Jahren hat jeder Sexualstraftäter per Gesetz Anspruch auf einen Therapieplatz, und er hat die Pflicht, diesen Anspruch auch einzulösen. Verweigert ein Sexualstraftäter im Knast diese Therapie, kann die Justiz auch kurz vor seinem Strafende Sicherungsverwahrung gegen ihn aussprechen. Aus anderthalb Jahrzenten Arbeit mit Sexualstraftätern habe ich die Erfahrung gezogen: Ohne äußeren Druck bewegt sich bei dieser Klientel gar nichts. Einen Täter, der sich nicht seinen Taten stellt, kann man nicht mehr auf die Menschheit loslassen.
INTERVIEW: PLUTONIA PLARRE