: Hauptsache fetzig
Kritik der Kritik (12): Die Neigung zur Kritikerbeschimpfung ist ausgeprägt in Deutschland. Das ist schon seit langem so, mittlerweile sind die Kulturredaktionen aber auch mitschuldig daran – wie aktuelle Beispiele aus Buchkritiken zeigen
■ Kritikfähigkeit wird heute von jedem Schulkind erwartet. Aber wie steht es damit in der Kultur? Ist Kritik auf dem Rückzug, bedrängt durch die Kulturindustrie? Ist sie nötiger denn je? Und wie soll/kann/muss sie heute aussehen? Eine Artikelreihe zum gegenwärtigen Stand des kritischen Handwerks
VON JÜRGEN BUSCHE
Wird zwischen Künstler und Kunde eine Instanz benötigt? Ja, sagt der Künstler, wenn es eine werbende ist. Nein, sagt er, wenn es eine herabsetzende ist. Was der Kunde dazu denkt, sagt er gegebenenfalls dem Buchhändler. Seit einiger Zeit sagt er immer öfter: Nein.
Kierkegaard beklagte zu seiner Zeit, dass die Journale so effektvoll über Bücher berichteten, dass durch sie das Lesen der Bücher überflüssig würde. Das dauere zudem länger und sei schwieriger. Es mag sein, dass eben dieser Trend sich immer weiter fortgesetzt hat – freilich mit Unterbrechungen. Kritiken sind immer effektvoller geworden, so sehr, dass sie mit ihren Gegenständen kaum noch etwas zu tun haben. Wer eine fulminante Kritik liest, hat auf diese Weise noch lange nicht die Kompetenz erworben, über das Buch mitreden zu können, dem sie galt. So sitzt er stumm im Kreise seiner Freunde und kann allenfalls mitreden, wenn der Name der Zeitung fällt, in der die Kritik abgedruckt war. Die Namen der Kritiker kennen die Leser seltener, als diese glauben.
Einige Autoren haben schon darauf reagiert. Sie zeigen es aber nur, wenn sie in die Bredouille geraten sind. Günter Grass, der alte SS-Veteran, machte bei seinen jüngsten Lesungen zur Freude seines Publikums kräftig Stimmung gegen die Intellektuellen in den Feuilletons und bekannte sich zur Liga der Kleinbürger. Das bedeutete insofern einen Wandel, als er noch in den Siebzigerjahren mit vollem Tuch in der Entourage machtbewusster Bundeskanzler gesegelt war und die Annahme des Bundesverdienstkreuzes, mit dem auch in ehrenamtlicher sozialer Tätigkeit anerkannte Kleinbürger ausgezeichnet werden, hochnäsig abgelehnt hatte. Wohl nicht zufällig ging daraufhin sein Rat, EsPeDe zu wählen, für lange Zeit ins Leere.
Auch Peter Handke, als er zum ersten Mal mit seiner Liebe zu Serbien in den Gazetten Missstimmung verbreitet hatte, sah dem Beginn der Lesereise danach mit Unwohlsein entgegen. Als er aber gleich am Anfang des ersten Abends registrieren durfte, dass die Bestie Publikum, wenn auch nicht ganz und gar, so doch lieber auf seiner Seite war als auf Seite der Journalisten, da ging er mit Verve daran, diese in die Ecke zu stellen, die den Bösewichtern zugedacht ist, und seine Zuhörer applaudierten ihm begeistert. Kritikerbeschimpfung kommt an in Deutschland.
Dass Kommunalpolitiker der Stadt Düsseldorf Handke neulich den Heine-Preis verweigerten, muss nicht auf ein verändertes Bild hindeuten. Hinter der Preisverleihung stand der CDU-Oberbürgermeister, und um diese Partei zu düpieren, hätten die Sozialdemokraten und Grünen im Rat auch Mahatma Gandhi einen Friedenspreis verweigert.
Es ist schon so, wie Siegfried Unseld gelegentlich von seinem Lehrherrn Peter Suhrkamp erzählte: Der habe stets hervorgehoben, dass die Autoren das wichtigste im Buchgeschäft seien. Alle anderen daran Beteiligten seien unwichtig. Das Publikum will Bücher und achtet den, der sie ihm schreibt. Für den Literaturkritiker indes wird nun die Arbeit bedenklich, wenn er gewahr wird, dass die Zahl derer, die Bücher lesen können, weit größer ist als die derer, die mit Noten etwas anzufangen wissen oder gar die Wahrnehmung moderner Kunst in Worte und Begriffe zu fassen vermögen. Wenn der Kritiker über die Kunst, einen Roman zu schreiben, nichts weiter weiß, als der Leser, der tagsüber in einem Kaufhaus in der Innenstadt Hemden verkauft, dann ist die Kritik überflüssig. Oder sie gleicht dem Schreiben, mit dem sich der Neffe geraume Zeit nach Weihnachten bei seiner Tante für das Buchgeschenk bedankt. Nur attraktiv hingelegt soll es sein, wobei nicht genau hingeschaut wird, worin die Attraktivität besteht. Vielleicht in der Voraussetzungslosigkeit des Lektüreerlebnisses?
Vor hundert Jahren spottete Karl Kraus über den Theaterkritiker, der vor der Premiere des „Hamlet“ bei der Direktion um die Zusendung des Textbuchs einkam. Heute ist die Theaterkritik längst bei dem Punkt angelangt, wo ihr das Textbuch nichts mehr hilft, und sie muss damit einverstanden sein. Aber müsste man nicht eben doch das Drama kennen, um die Kritik der Aufführung pflichtgemäß mit der Mahnung zu beginnen: Wenn Sie den Abend genießen wollen, vergessen Sie Shakespeare!
Es ist nicht nur die Schuld der Journalisten. In einer berühmten deutschen Universitätsstadt beklagte sich einmal ein Germanistikprofessor schriftlich bei dem Chefredakteur der dortigen Zeitung über das schwache Deutsch im Blatt. Aber die Beispiele, die er anführte, stammten aus Artikeln von Leuten, die kurz zuvor an der Universität dieser Stadt ihr Germanistikstudium glanzvoll abgeschlossen hatten. Allerdings, Redakteure in Zeitungen haben heute außer dem eigenen zwei weitere Berufe wahrzunehmen, den des Setzers und den des Metteurs; sie sind dabei aber nicht mehr geworden in den Redaktionen. Kritiken und Rezensionen werden auch in anspruchsvollen Häusern kaum noch eigens auf Inhalt und Schlüssigkeit des Urteils hin kontrolliert, es reicht, wenn sie witzig, fetzig oder umgekehrt vor Seriosität strotzend geschrieben sind.
Die Fehler bemerkt der Leser, das bedeutet, die Fehler bemerken mal Hunderte, mal Tausende – und die reden gern darüber. Drei Beispiele: ein anspruchsvolles, ein ärgerliches, ein peinliches. Die Erzählung eines berühmten Schriftstellers lebt wesentlich von der Beziehung, die sie zu einer Erzählung Kafkas herstellt. Respektabel oder nicht: Es kann der Kritiker mit Kafka hier nichts anfangen und erklärt solche Beziehung für nichts. Das ist ignorant, doch es gibt keine Instanz, die solche Ignoranz an ihrer Selbstdarstellung hindert. Aber die Leser sind düpiert.
In der Rezension eines historischen Buchs wird dem Autor vorgeworfen, er habe neueste Literatur nicht benutzt. Die Wahrheit ist, die neueste Literatur ist ausländisch und durchaus benutzt worden, der Rezensent kennt aber nur die unerheblichen deutschen Titel.
Bei der Härte des Vorwurfs müsste die Zeitung das nachprüfen, aber dazu fehlt die Zeit: Man vertraut lieber dem eigenen Mitarbeiter als dem Buchautor. Aber der Leser – wiewohl gewiss nicht jeder – ist verärgert.
In der Kritik eines Romans werden Szenen falsch nacherzählt, um einen Verriss zu begründen. Das kann in der Redaktion kaum bemerkt werden, denn man hat dort die Kapazität nicht, jeden besprochenen Roman vor Drucklegung der Rezension selbst zu lesen. Aber die Leser bemerken es und sehen sich in ihrem Misstrauen gegen die Kritik bestärkt.
Der Literaturkritiker Ulrich Greiner hat einmal darauf hingewiesen, dass ein Kritiker, der eine schlechte Kritik geschrieben habe, dafür bei seinen Kollegen zu leiden habe. Das wird wohl ein herbes Schicksal sein. Doch in Mitleidenschaft gezogen sind – oder waren lange Zeit – Verlagsangestellte, Buchhändler, Kunden. Das geschwundene Ansehen der Kritik ist eine Tatsache, die vor allem auf mangelnde Zuverlässigkeit sachlicher Kompetenz zurückzuführen ist.
„Man darf Bücher nicht lesen, bevor man sie rezensiert“, sagte der englische Kritiker Sidney Smith, „man wird sonst zu voreingenommen.“ Für den derzeitigen Zustand der Kritik braucht man weder große noch kleine Theorien zu bemühen. Es gibt heute schon Voreingenommenheiten, nach denen sich die Leser mittlerweile sehnen. Und die Kritiker sollten der ohnehin schon vorhandenen Neigung zu Kritikerbeschimpfung nicht auch noch ohne Not kräftig Nahrung geben.