: Wie schön, wenn man in ein Gleißen guckt
THEATERORGIE Das ist so krass wie beeindruckend: Mirko Borschts „Woyzeck III“ frei nach Büchner am Maxim Gorki Theater
Ein wilder Abend. Eine ausgewachsene Besprechung über Mirko Borschts Inszenierung „Woyzeck III“ frei nach Büchner am Maxim Gorki Theater zu schreiben, sehe ich mich nicht in der Lage. Denn dann müsste ich eine Lesart dazu anbieten, warum was auf der Bühne geschieht – warum die Schauspieler zum Beispiel immer wieder gerne aufrecht an der Rampe stehen und mit heroischem Blick in die Ferne alternative Schöpfungsgeschichten rezitieren, warum in der ersten halben Stunde eine Art Splatter- und Serienmörderhöhle auf den Eisernen Vorhang projiziert wird und warum der Abend in seiner zweiten Hälfte in eine Theaterorgie voll krankem Scheiß inklusive kotzenden Schauspielern, Trockeneisnebelschwaden und blendendem Gegenlicht kippt. So eine Lesart fällt mir aber nicht recht ein.
Klar, manches – den Mord, die Wissenschaftsexkursionen, die inneren Stimmen, die die Figuren in den Wahn treiben – kann man leicht auf den „Woyzeck“-Kosmos beziehen. Manches wie den bestimmt 20-minütigen Theatermonolog über die Entstehung der Sprache und des Bewusstseins aus dem Geist der bikameralen Psyche nach dem US-Psychologen Julian Jaynes dann aber auch wieder nicht. Und was den Zusammenhang des Ganzen betrifft, habe ich keine Lust auf die billigen Dramaturgenfloskeln wie „Recherche“, „Assoziationen“ oder „Probebohrung“ zu verfallen. „Wie viel Woyzeck braucht der Mensch?“ steht als Frage im Programmheft. Weiß nicht. Das ist nach diesem Abend nicht viel klarer als vorher.
Wahrscheinlich nimmt Mirko Borscht Büchners berühmte Sentenz „Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einen, wenn man hinabsieht“ sowieso nur als Lizenz, alle möglichen Abgründe auf die Bühne zu wuchten: Leichenfledderei, Gotteslästerei, Herumstehen mit nacktem Oberkörper und in Unterhosen, Herumgeballere, blutig eingeschlagene Köpfe, sich suhlen in Dreck und Matsch. Zu den wahren Helden dieses Theaterabends gehört das Putzpersonal, das hinterher die Sauerei immer wieder wegmachen muss.
Aber den Eindruck schildern, dass dieser in manchem geniekraftmeiernde Abend immer wieder zu ganz großartigen Momenten führt, das kann man schon. Es gibt in ihm fast berghainhafte panästhetische Augenblicke von Sinnüberflutung, wozu verstrahlte Schauspielergesichter, gleißendes Scheinwerferlicht und die Musik (Friederike Bernhardt) beitragen. Es gibt den Schauspieler Till Wonka, der eben noch eine Kraft und Berserkerhaftigkeit auf die Bühne gestemmt hat, dass sie einen im Zuschauerraum zu etwas ganz Kleinem zerdrückte; und der ein paar Minuten später eine körperliche Kaputtheit hinkriegt, dass man sich wirklich Sorgen um ihn macht. Manchmal passiert auch minutenlang gar nichts. Das sind vielleicht sogar die schönsten Momente an diesem Theaterabend. Wenn man einfach in ein Gleißen guckt, Schauspieler irgendwo herumstehen und das Bühnenbild längst so in Trümmern liegt wie der Gesamtzusammenhang. Am Schluss stellt man sich aber doch die Frage, ob Büchner das nicht ganz gut gefallen hätte. DIRK KNIPPHALS