: „Es herrscht flächendeckende Angst“
In Tschetschenien sorgen bewaffnete Gruppen für ein Regime der Willkür, sagt die Frauenrechtlerin Lipkhan Bazaeva. Die Rückbesinnung auf die Tradition schützt die Frauen aber vor der Gefahr einer islamistischen Radikalisierung
taz: Frau Bazaeva, wie ist die Lage in Tschetschenien heute: herrscht dort Krieg oder eine Art Frieden?
Lipkhan Bazaeva: Es herrscht weder Krieg noch Frieden. Zwar fliegen keine Kampfflugzeuge mehr über uns hinweg, und es finden keine flächendeckenden Bombardierungen mehr statt. Dennoch hat man nicht das Gefühl, im Frieden zu leben. Zum einen kommt es immer noch gelegentlich zu Zusammenstößen bewaffneter Gruppen. Vor allem aber gibt es mittlerweile massenhaft nächtliche Verhaftungen und gezielte Säuberungen.
Worum geht es heute in diesem Konflikt?
Offiziell heißt es, da sollten Terroristen bekämpft werden. De facto aber werden Separatisten bekämpft – also alle Leute, die separatistische Ideen vertreten. Vor allem deren Angehörige oder ihnen nahe stehende Menschen sind in letzter Zeit zur Zielscheibe geworden.
Wie muss man sich die Repression konkret vorstellen?
Es herrscht eine Atmosphäre der Bedrohung und der Gefahr. Man sieht, dass bei Freunden oder Nachbarn jemand festgenommen wird, wobei der Ausdruck „festgenommen“ fast euphemistisch klingt: Diese Person wird verschleppt, wird von irgendwelchen Einheiten mitgenommen, und man weiß, dass das auch einem selbst passieren kann.
Man lebt ständig im Bewusstsein dieser Bedrohung. Das erzeugt eine Atmosphäre der flächendeckenden Angst.
Wer steckt hinter diesen Verschleppungen?
Es gibt eine ganze Reihe bewaffneter Gruppen. Das Schlimme ist, dass sie nicht miteinander kooperieren, es findet kein Informationsaustausch zwischen ihnen statt. Das heißt, sie wissen oft nicht, was die anderen Gruppen machen und wen sie schon verhaftet haben, dabei suchen sie manchmal nach ein und derselben Person.
Ihr Vorgehen ist sehr chaotisch und sehr brutal.
Sind das staatliche Gruppen oder Paramilitärs?
Es sind staatliche Gruppen.
Wie wirkt sich dieser Konflikt auf die tschetschenische Gesellschaft aus?
Ein Teil der tschetschenischen Bevölkerung ist bei staatlichen Institutionen angestellt, militärischen oder zivilen. Das ist aber nur eine Minderheit. Die Mehrheit hat keine Arbeit und kein Einkommen, und schon das führt zu starken Spannungen innerhalb der Bevölkerung. Viele junge Männer nehmen eine Arbeit bei einer der militärischen Gruppen an – zum einen, um eine Einkommensquelle zu haben, und zum anderen, um legal eine Waffe tragen zu können. Diese Waffe ist für sie ein Schutz: Sie versetzt sie in die Lage, sich und ihre Familie zu verteidigen, falls bei ihnen mal nachts jemand vor der Tür steht. Gleichzeitig wird das, was sie tun, von der Mehrheit allgemein missbilligt: Auch dadurch entstehen wieder neue Spannungen.
Herrscht in der tschetschenischen Bevölkerung das Bedürfnis vor, endlich ein normales Leben zu führen, oder schlagen sich antirussische Ressentiments in einer Unterstützung für die Separatisten durch?
Beides. Einerseits sind die Leute von den beiden Kriegen sehr erschöpft und wollen nun Frieden. Andererseits kann man eine sehr starke antirussische Stimmung feststellen. Dabei muss man aber differenzieren: Das ist keine Stimmung gegen Russen als solche, sondern eine Abneigung gegen den russischen Staat und seine politischen Strukturen. Selbst Menschen, die mit den russischen Behörden zusammenarbeiten, tun das gewöhnlich nur wegen des Geldes. In ihrem tiefsten Inneren aber haben sie für diesen Staat nichts übrig.
Lässt sich aufgrund der desolaten Lage eine stärkere Rückbesinnung auf islamische Werte und Traditionen feststellen? Spielt der Islam in Tschetschenien wieder eine größere Rolle?
Es ist natürlich so, dass Menschen, die verzweifelt sind, in der Zuwendung zu Gott Rückhalt und Stärke finden. Das kann insbesondere in Kriegszeiten auch einen Risikofaktor darstellen, weil religiöse Überzeugungen in solchen Situationen häufig instrumentalisiert und radikalisiert werden. Auch in Tschetschenien kommt es vor, dass Leute sich den Glauben auf ihre Fahnen schreiben und der Glaube aufhört, eine Privatangelegenheit zu sein.
In vielen Ländern wirkt sich eine solche Rückbesinnung auf die Religion sehr negativ auf die Situation der Frauen aus. Ist das auch in Tschetschenien der Fall gewesen?
Grundsätzlich schadet jeder Krieg vor allem den Frauen, sie sind in erster Linie die Opfer. Was den Islam angeht, so sind die Tschetschenen Muslime in einer sufistischen Ausrichtung. Und es gibt nicht nur diese alte Sufi-Tradition, sondern auch noch unsere alten religiösen Lehrer, die Ustas. Sie haben dazu beigetragen, dass es nicht zu einer solchen Radikalisierung gekommen ist wie etwa in Afghanistan. Deshalb hat es im Alltag der meisten Frauen auch kaum Veränderungen gegeben.
Außerdem gibt es in Tschetschenien neben dem Islam noch eine starke Tradition, eine Art tschetschenisches Gesetz, das mit dem Islam nichts zu tun hat und noch immer wirksam ist. Dieses alte Sittengesetz, das wir Adad nennen, gesteht den Frauen bestimmte Rechte zu. Das Adad ist heute fast so etwas wie ein schützender Puffer gegen die islamische Radikalisierung.
Sehen Sie derzeit irgendwo einen Ansatz für eine Lösung des Tschetschenienkonflikts?
Im Bereich der hohen Politik sehe ich sehe keinerlei Ansätze, im Gegenteil: Eine Lösung rückt in immer weitere Ferne. Aber ich rechne damit, dass die Frage nach Unabhängigkeit und Autonomie irgendwann wieder auftauchen wird. Dann wird man gezwungen sein, eine Lösung zu finden. Ich denke aber auch, beim nächsten Mal wird das nicht mehr so brutal ablaufen wie jetzt im Krieg.
Meinen Sie, dass es in dieser Frage irgendwann einmal zu einem Referendum kommt?
Ich denke, momentan ist ein Referendum unmöglich und damit auch nicht sinnvoll. Dafür bräuchte es minimale Grundvoraussetzungen wie etwa Meinungsfreiheit, und die ist nicht gegeben. Das kann man vielleicht irgendwann einmal versuchen. Aber bis es so weit ist, muss man sich fragen, wie unsere politische Zukunft aussehen soll: Die Welt hat sich stark verändert, und es gibt eine neue, geopolitische Situation, die mitbedacht werden muss. Die Frage stellt sich nicht nur nach der Rolle Tschetscheniens in Russland, sondern in der Welt.
INTERVIEW: ANTJE BAUER