: Der alte Stachel
Der neue Nike-Werbespot stellt eine zentrale Frage: Welchen Preis zahlt der Einzelne für beruflichen Erfolg?
Die Chancen, von Fernsehwerbung unterhalten zu werden und dabei etwas über das Leben zu lernen, standen schon mal besser. Fernsehwerbung ist momentan, zumal im deutschsprachigen TV, bieder, mutlos und langweilig. Um so deutlicher ragen die Ausnahmen heraus: Seit kurzem läuft ein erstaunlicher Werbespot der Sportartikelfirma Nike, der in 59 Sekunden ein ganzes Themenfeld in seinen popkulturellen und gesellschaftlichen Bezügen bündelt: Man sieht dokumentarische Szenen, in denen Sportler unter Anstrengung oder Missgeschicken leiden. Ein Turner rutscht von der Reckstange ab, ein Läufer erbricht sich, dazu singt Johnny Cash eines seiner letzten und berühmtesten Lieder: „I focus on the pain / The only thing that's real / The needle tears a hole / The old familiar sting“. Es ist die Coverversion von „Hurt“, in dem Trent Reznor von der Band Nine Inch Nails den sozialen und charakterlichen Niedergang durch Drogengebrauch bedichtete. Und dann sind in dem Spot tatsächlich Bilder von Lance Armstrong, Schmerzensmann und mutmaßlicher Doping-User, im Gelben Trikot zu sehen. „I wear this crown of thorns / Upon my liar's chair“, heißt es in Cashs „Hurt“.
Zum einen verblüfft der offensiv-ironische Umgang von Nike mit den Manipulationsvorwürfen gegen Armstrong, zum anderen die Gesamtkombination von Bild, Musik und Text. Reznors und Cashs Drogenerfahrungen, die sich in der Coverversion schrecklich-schön verdichten, werden auf den Sport übertragen, und man fragt sich: Tut Sport als Beruf denn so weh, dass man es nur mit Opiaten und anderen pharmazeutischen Helferlein durchstehen kann?
Die Radikalität des Spots liegt darin, dass er die Härte des Sports, das, was sich der Sportler für den Erfolg antun muss, ungeschönt zeigt: Man sieht die schwärzesten Stunden der Sportler, in der kein unmittelbarer Triumph die Schmerzen lindert, man sieht zum Beispiel, wie die Hürdensprinterin Gail Devers in Führung liegt, jedoch an der letzten Hürde stürzt. Am Ende wird versprochen, dass Nike-Sneaker alles erträglicher machen: „A little less hurt – Etwas weniger Schmerz.“
„I hurt myself today / To see if I still feel“, mit diesen Worten beginnt „Hurt“, und sie gelten in gewisser Weise auch für den Sport: Körperliche Extrembelastung ist ein wunderbarer Weg, das Leben intensiv und unverstellt zu erfahren, aber der Grat zwischen freudiger Anstrengung und Erschöpfungsqualen ist schmal. So kann man ab einem bestimmten Fitnessgrad mit Lustgewinn hohe Berge hinaufradeln. Doch wird man als Profi durch die Konkurrenz zu immer höheren Leistungen angetrieben, dann verwandelt sich die schönste Passstraße in eine Folterbank.
Medikation wird vor diesem Hintergrund zu einer selbstverständlichen Kulturtechnik, die dem Profi seine Arbeit erleichtert. Das aus diesem Systemzwang resultierende Kollektiv-Doping in manchen Sportarten lässt sich als Symptom einer Leistungsgesellschaft verstehen, in der das Individuum gezwungen ist, sich für den Wettbewerb zuzurichten, um seine Talente zur Geltung zu bringen. Nicht nur Sportler, jeder kann sich die Frage stellen: Welchen persönlichen Preis zahle ich für den beruflichen Erfolg?
Genau wie der Konkurrenzdruck den Sportler zum Doping zwingt, fordert die Nike-Werbung den Konsumenten auf, die Zähne zusammenzubeißen und im großen Rattenrennen mitzumachen: Die Sportschmerzen werden in der Kombination mit „Hurt“ zum metaphysischen Leiden am Leben selbst.
Doch fern der Metaphernebene ist der Sportler ein körperlicher Arbeiter, der für den Erfolg seine Gesundheit und manchmal gar sein Leben aufs Spiel setzt, ein ebenso selbstverständliches wie unzivilisiertes Konzept: Sport gehört zum Schönsten, was es gibt, aber Sport als Beruf scheint ein kulturgeschichtlicher Irrweg zu sein, der sich wiederholt. Nicht umsonst blicken wir heute mit fasziniertem Grauen auf das Gladiatorentum der Römer zurück. Mit ähnlichen Gruselgefühlen kann man jedoch unsere eigene Epoche betrachten, in der sich im Staatsfernsehen Boxer Kiefer brechen und Köpfe blutig schlagen oder Radfahrer mit einem Durchschnittstempo von knapp 40 km/h durch die Alpen getrieben werden.
Es ist seltsam, dass immer noch diejenigen zu Sportidolen werden, die die Zwänge eines unmenschlichen Systems am besten erfüllen, bei der letzten Tour de France etwa Floyd Landis – wenn auch nur für ein paar Tage bis zum positiven Dopingbefund. Denn eigentlich ist die Zeit reif für einen idealistischen Sportrebellen und Systemverweigerer, der die Bewegung wieder zu einer zweckfreien Kunst macht: Hätte der nun von Medien und Justiz verfolgte Jan Ullrich nicht auch mit sich selbst und seiner Begabung glücklich werden können? Dann müsste er sich heute nicht wie in „Hurt“ fragen: „What have I become?“ Ja, könnte man sich Ullrich nicht auch vorstellen, wie er sein ungeheures Talent verschwenderisch nur für sich selbst genießt, wie er glücklich durch die Hügel rund um den Bodensee radelt und ab und zu mal hoch nach Alpe d’Huez? Dann wäre er eine faszinierende Figur geworden, ähnlich einem genialen Dichter, der großartige Romane schreibt und die fertigen Manuskripte verbrennt. CHRISTIAN KORTMANN