: Was der VIII. Parteitag beschloss, ist Wirklichkeit
FOTO Harald Hauswald hat Menschen im DDR-Alltag fotografiert und das Bild einer Epoche mitgeprägt. Im Mai wird er 60
VON ULRICH GUTMAIR
Der Fehler totalitären Denkens besteht darin, zu glauben, dem als richtig Erkannten und historisch Notwendigen Priorität über die Realität einräumen zu können. Wenn man das nicht ohnehin schon wusste, kann man es von einem Farbdia lernen, das Harald Hauswald 1987 auf einer FDJ-Veranstaltung aufgenommen hat. Zu sehen ist eine Menschenmenge, es dominieren die Farben Rot und Blau. Nach hinten verliert sich die Szene im Unscharfen. Die jungen Leute schauen nach links aus dem Bild, nur ein Auge blickt direkt in die Linse des Fotografen. Selbst gemalte Schilder werden hochgehalten. Darauf kann man lesen: „Demokratie ist nicht nur reden, sondern auch tun!“ Den Blick des Betrachters aber fängt zuerst ein Schild im Vordergrund ein, das proklamiert: „Was der VIII. Parteitag beschloss, ist Wirklichkeit!“ Wie Materialisten, Marxisten, Leninisten zu einer so tiefreligiösen, die eigenen Möglichkeiten dermaßen überschätzenden Aussage gekommen sind, gibt Rätsel auf.
Harald Hauswald versuchte mit seinen Fotografien nicht nur die Wirklichkeiten lebender Menschen, den Alltag in der DDR einzufangen, sondern auch die eklatanten Widersprüche zwischen der Ideologie und den gesellschaftlichen Tatsachen. Das musste früher oder später die Stasi auf den Plan rufen. Kundige Inoffizielle Mitarbeiter betätigten sich im Fall Hauswald, der seit 1983 als operativer Vorgang „Radfahrer“ vom Ministerium für Staatssicherheit geführt wurde, als sozialistische Kunstkritiker mit Sinn für die Zusammenhänge von Form und Inhalt, Sujet und Weltbild. Die IMs „Wilhelm“ und „Dengler“ erkannten in Hauswald ein negatives, skeptisches Element. Am 8. Oktober 1987 berichteten sie über seinen Fotoband, der im Westen erschienen war: „In der für Hauswald typischen Betrachtungsweise sollen die Fotos die Einsamkeit und Verlorenheit der Menschen im grauen DDR-Alltag widerspiegeln.“ In der Tat sind seine inzwischen schon klassisch zu nennenden Schwarz-Weiß-Fotografien oft dunkle Studien des Randständigen, Heruntergekommenen, Armseligen und Verlorenen, wodurch sich der Fotograf wohl als Teil der romantischen Verschwörung gegen die aufgeklärte, sinnvolle Regelung der gesellschaftlichen Angelegenheiten qualifizierte, die Peter Hacks in den letzten zehn Jahren der DDR am Werk sah.
Hauswalds Bilder zeichnen sich durch die Unerschrockenheit aus, den Leuten, die man auf der Straße trifft, mit der Kamera ins Gesicht zu sehen. Der Fotograf hat erzählt, dass er Jahre gebraucht hat, sich die Selbstverständlichkeit dieses direkten Herangehens an die Leute anzutrainieren. Von seiner Neugier profitieren wir heute, sehen wir doch auf seinen Bildern eben nicht vordergründig die Absichten eines Fotografen, sondern die individuellen Ausdrücke einer Epoche, die uns inzwischen sehr fern vorkommt. Am 3. Mai wird Harald Hauswald 60 Jahre alt, ein paar Monate später jährt sich der Zusammenbruch der DDR zum 25. Mal. Die hier gezeigten Fotos stammen aus dem Band „Ferner Osten. Die letzten Jahre der DDR“, der im Lehmstedt Verlag erschienen ist. Am 7. Mai wird eine Ausstellung mit Hauswalds Bildern im Haus des Buches in Leipzig eröffnet, einen Tag später eine Ausstellung in der Fotogalerie Friedrichshain in Berlin.