Stilistische Paralyse

CHAMPIONS LEAGUE Erstmals seit 2007 stehen sie nicht im Halbfinale: Nach dem Aus gegen Atlético Madrid geht in Barcelona wohl eine Ära großer Dominanz zu Ende

„Wir gewinnen und verlieren als Team. Nicht alles darf auf seinen Schulter liegen. Es gibt ja schließlich auch noch andere als Leo“

BARÇA-COACH MARTINO ÜBER MESSI

AUS MARDID FLORIAN HAUPT

Xavi stellte sich gleich nach Abpfiff, der Körper verschwitzt, der Lärm von den Rängen infernalisch, der Presse. Solche Momente können besonders ehrlich sein oder besonders verblendet. Oder beides. „Wir haben vier oder fünf Torchancen gehabt, die normalerweise reingehen. Wir haben die Stirn geboten und hätten zumindest ein Unentschieden verdient gehabt.“ Xavi dachte wirklich, was er sagte, doch es musste einem vorkommen, als hätte er ein völlig anderes Fußballspiel gesehen.

Xavi, der Rekordspieler des Klubs, der Kapellmeister der großen Jahre. Seit der Ankunft von Trainer Frank Rijkaard und Ronaldinho im Jahr 2003 und dann insbesondere mit Trainer Pep Guardiola und der Entfesselung von Lionel Messi ab 2008 hatte diese Mannschaft den Fußball geprägt. Natürlich gewann sie nicht immer, aber sie war doch immer Referenz. Jetzt nicht mehr. Das Viertelfinal-Ausscheiden in der Champions League durch ein 0:1 bei Atlético Madrid brachte die letzte Gewissheit. Wer zum fünften Mal in einer Saison gegen den gleichen Gegner spielt und ihn zum fünften Mal nicht schlägt, kann keine Referenz mehr sein.

Im Sommer bei den beiden Supercup-Finals (1:1, 0:0), im Winter in der Liga (0:0), im Frühling in der Champions League (1:1, 0:1): Fünf Spiele, die zusammen genommen die Geschichte eines Niedergangs erzählen, in denen Lionel Messi kein einziges Tor schoss. In der für Barcelona überhaupt nur Neymar traf, der einzige Neuzugang des Sommers. Fünf Spiele, in denen Barça an Intensität und taktischer Variabilität unterlegen war, über deren Spanne es sich aber nicht korrigierte, bis es am Mittwoch völlig der Gnade eines Gegners ausgeliefert war, der ohne seinen Goalgetter Diego Costa und seinen Dandy Arda Turan auskommen musste und die Partie trotzdem schon in den ersten 20 Minuten hätte entscheiden können.

Fünf Spiele, das ist weder mit Formschwächen noch mit Verletzungen oder Schicksalsschlägen zu erklären. Eigentlich wussten aber damals schon alle, dass sich etwas ändern musste, die ersten ahnten es sogar schon ein Jahr zuvor, als sie Guardiolas enigmatischen Abschiedssatz („Ich gehe, weil wir uns sonst wehtun würden“) als Hinweis auf die Notwendigkeit eines Umbruchs interpretierten. Dieser ist bis heute ausgeblieben. Man hat die Mannschaft an ihrer eigenen Selbstzufriedenheit zugrunde gehen lassen. Wohlwollender formuliert, war diese Mannschaft so groß, dass sie sich mit all ihren Erfolgen das Recht erwarb, auf ihre Weise zu verwelken.

Erstmals seit 2007 verpasste der FC Barcelona nun also ein Champions-League-Halbfinale, aber das Problem sind weniger die Ergebnisse, in der Liga (Platz zwei hinter Atlético) und im Pokal (Finale gegen Real Madrid am nächsten Mittwoch) können sogar Titel gewonnen werden. Wirklich gefährlich ist die stilistische Paralyse der Elf. „Wir haben die Stirn geboten, indem wir gespielt haben wie immer in den letzten zehn Jahren“, sagte Trainer Gerardo Martino. Unfreiwillig deutlich verriet er damit, dass Form zum Selbstzweck verkommen ist und Linientreue zu Ignoranz. Frei nach dem Motto: Wir haben ja schon einen Stil, da brauchen wir keine Taktik.

Im Sommer, so heißt es seit Wochen, wird Martino wohl gehen, aus freien Stücken, desillusioniert, mit dem Etikett des gescheiterten Erbwalters. Bleiben werden die Herausforderungen an die sportliche Führung um Andoni Zubizarreta, die nach derzeitigem Stand – der Klub ficht das Fifa-Urteil vorm Internationalen Sportgerichtshof Cas an – nicht auf dem Transfermarkt tätig werden darf. Und dann ist da noch das Problem mit Lionel Messi, der nach einem Zwischenhoch im Clásico vor drei Wochen gegen Atlético mal wieder zwei Partien von maximaler Lustlosigkeit bot. Der Argentinier lief im Rückspiel nur 6,8 Kilometer, unwesentlich mehr als Torwart Pinto, aber fast halb so wenig wie die aktivsten Spieler auf dem Platz.

Messi hatte nur 40 Ballkontakte, rund 20 weniger als im Saisondurchschnitt und über 60 weniger als während seiner Glanzzeiten. Man nimmt an, dass er sich schon für die WM schont. Andernfalls wird ihm irgendwer sagen müssen, dass er nicht mehr der Mittelpunkt dieser Mannschaft sein kann. Aber, und auch das ist nichts Neues: Messi darf bei Barça schon lange niemand mehr etwas sagen.