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Archiv-Artikel

Ein Kind des Weltkriegs

NACHRUF Sohn einer Frankfurter Jüdin und eines österreichischen NS-Kollaborateurs – zum Tod des niederländischen Schriftstellers Harry Mulisch

Subtil eingewoben in den Roman: die Familiengeschichte des Autors selbst

VON RUDOLF WALTHER

Harry Mulisch verdankt sein Überleben einer tragischen Konstellation von antiker Wucht. Sein Vater war österreichischer Herkunft und Personaldirektor in einer niederländischen Bank. Seine Mutter war Jüdin und stammte aus Frankfurt am Main. Nach der Besetzung der Niederlande durch Hitlers Wehrmacht am 10. Mai 1940 übernahm der Nationalsozialist Arthur Seyss-Inquart als Reichskommissar das brutale Besetzungsregime. Mulischs Vater war als hoher Bankangestellter auch mit der Beschlagnahme jüdischer Vermögen befasst. 1945 wurde er als NS-Kollaborateur verhaftet und für drei Jahre in ein Internierungslager gesteckt.

In seiner Position gelang es Mulischs Vater allerdings auch, seine jüdische Frau und den 1927 geborenen Sohn Harry vor Verhaftung und Deportation zu schützen. Diese tragische Konstellation hat Leben und Werk Mulischs geprägt. Die Schwiegermutter seiner Frau und deren Mutter wurden in Auschwitz ermordet.

Das umfangreiche Werk Mulischs umfasst Romane, Gedichte, Dramen, Opernlibretti, philosophische und politische Essays sowie Reportagen. Seine Romane wurden weltweit berühmt und in dreißig Sprachen übersetzt. Die wichtigste Reportage erschien 1962 unter dem Titel „Strafsache 40/61“ und behandelte den Eichmann-Prozess in Jerusalem. Hier lernte er auch Hannah Arendt kennen und schätzen. In seinem autobiografischen Roman „Selbstporträt mit Turban“ (1961) schilderte er eindringlich die schwierige moralische und politische Konstellation in seinen Familienverhältnissen. Mulisch sagte von sich: „Ich bin der Zweite Weltkrieg.“

Einer der bekanntesten Romane Mulischs erschien 1982 unter dem Titel „Das Attentat“. Es ist auf den ersten Blick ein konventioneller Kriminalroman, auf den zweiten eine große zeithistorische Erzählung, die vom Korea-Krieg über den Ungarn-Aufstand bis zur Antikriegs- und Antiatomkraftbewegung reicht. Subtil eingewoben die Familiengeschichte des Autors selbst. Die Handlung geht über 30 Jahre hinweg und dreht sich im Kern um das In- und Gegeneinander von Vergangenheit und Gegenwart, Tätern und Opfern. Mulisch beschreibt die moralischen Konfliktsituationen von Widerstandskämpfern und Kollaborateuren, einfühlend, aber ohne sentimentalen Kitsch.

Auch sein erfolgreichster Roman „Die Entdeckung des Himmels“ ist ein großartiges zeitgeschichtliches Tableau. Die Handlung setzt 1914 ein, dem Jahr der Urkatastrophe in der Geschichte Europas und der Welt: Gott kündigt den Menschen seinen Beistand auf, an die Zehn Gebote hält sich keiner mehr. Zwei Engel konfiszieren Moses’ Gesetzestafeln. Ein Wiener heiratet eine jüdische Diamantenhändlerin in Frankfurt. Im November 1933 wird ihr gemeinsamer Sohn Max geboren. Als Erwachsener läuft Max mit dem Trauma durch die Welt, sein Vater habe seine Mutter verraten und den Nazis zur Deportation ausgeliefert.

Die komplexe, von ironischen Glanzstücken durchsetzte Handlung bewegt sich in biblischen, historischen und philosophischen Gefilden. Die Pointe: die Menschen müssen definitiv ohne Gottes Gesetze auskommen. Am Samstag ist Harry Mulisch im Alter von 83 Jahren gestorben.