: Milane oder Windräder?
DENKEN Nicht allein, ob etwas politisch durchsetzbar ist, darf entscheiden zwischen erneuerbaren Energien und dem Naturschutz. Sondern vor allem die philosophische Ethik sollte der Maßstab sein
■ Am Dienstag brachte er eine Einigung in der Großen Koalition darüber, wie die Erneuerbaren künftig gefördert werden. Für Windkraft ging es glimpflich aus, der Ausbau könnte weitergehen.
■ Der Autor ist seit 2009 Professor an der Universität Mannheim für Philosophie und Wirtschaftsethik. Dort gibt es auch die Website www.kompass-umweltethik.de.
VON BERNWARD GESANG
Die Energiewende sorgt für Konflikte zwischen Natur- und Klimaschutz. Dieselben Menschen, die einst friedlich auf der Anti-AKW-Demo nebeneinanderher gingen, bekriegen sich nun in Bürgerbewegungen für oder gegen Windräder, für oder gegen Pumpspeicherkraftwerke, für oder gegen Strommasten.
Soll man die besten Standorte für Windkraft ungenutzt lassen, etwa weil dort Rote Milane nisten? Der Hegauer Vulkan Hohenstoffeln wäre aufgrund des starken Windes der beste Platz im Landkreis Konstanz. Doch seit 1941 ist der markante Doppelgipfel Naturschutzgebiet, und somit erübrigt sich jede Diskussion. Welche Entscheidung ist nicht nur politisch machbar, sondern moralisch richtig?
Diese Frage als Erstes zu stellen, sollte doch eigentlich das richtige Verfahren sein, denn einfach nur eine durchsetzbare Lösung zu suchen, das ist eine legitimitätsfreie Machtinszenierung. Was sagt also die philosophische Ethik dazu? Es gibt vier Positionen, die sich hier zu Wort melden.
Jeremy Bentham meinte, eine Handlung sei moralisch, wenn sie so viel Glück auf der Welt schaffe wie möglich (Utilitarismus). Es zähle das Glück aller, auch der Tiere. Hier fällt die Rechnung einfach aus: Der Klimawandel ist die größte Bedrohung für menschliches Glück, die wir derzeit kennen. Zudem ist er auch die größte Bedrohung tierischen Glücks, denn es gibt keine größere Gefährdung der Artenvielfalt und des Lebens einzelner Tiere sensibler Arten als den Klimawandel. Das wiegt zuungunsten der Milane.
Tragen aber Windräder in Deutschland überhaupt effektiv zum Klimaschutz bei? Deutschland emittiert nur wenige Prozent des weltweiten Kohlendioxids. Aber: Wenn wir in Deutschland die technisch beste Erzeugung erneuerbarer Energien wettbewerbsfähig machen, können wir das exportieren. Schwellenländer können dann vermeiden, den Umweg zur Industrialisierung über zu viele Kohlekraftwerke zu gehen, und das bringt handfeste Emissionssenkungen.
Wettbewerbsfähig werden erneuerbare Energien nur durch Massenproduktion, das haben die sogenannten Skaleneffekte gezeigt, also die enorme Verbesserung und Verbilligung dieser Techniken in der Vergangenheit. Daher: Wir brauchen möglichst viele Windmühlen in Deutschland. Also: Gemäß dem Utilitarismus bringt Klimaschutz einen enormen Glückszuwachs, und die Milane müssen weichen.
Kant ohne Herz für Tiere
Aber Immanuel Kant lehnte den Utilitarismus radikal ab. Gibt es bei ihm mehr Hoffnung für Milane?
Handlungen, deren Grundsätze im Widerspruch zum allgemeinen Handlungsgesetz stehen (kategorischer Imperativ), sind falsch, egal wie viel Glück sie in die Welt bringen. Aber leider hatte Kant kein Herz für Tiere oder die Natur. Seine Ethik geht von Menschenwürde aus, und Tiere muss man nur berücksichtigen, wenn indirekte Auswirkungen auf den Menschen bestehen. Auch nach Kant haben die Milane schlechte Karten, wenn der Klimaschutz dem Menschen am Ende mehr nutzt als die Milane.
Thomas Hobbes und seine Vertragstheoretiker schließen sich dem ohne Abstriche an.
Albert Schweitzer vertritt: Alles Leben ist „heilig“ und schützenswert (Biozentrismus). Das klingt äußerst milanfreundlich. Aber selbst Schweitzer meint, dass das Lebensrecht „niederer“ Lebensformen manchmal dem von „höheren“ Lebensformen weichen muss.
Nur meint er, dass wir uns mit jeder Tötung schuldig machen. Wenn Schweitzer uns dazu anhält, uns schuldig zu fühlen, wenn wir die Erreger der Schlafkrankheit töten, weil auch Bakterien leben, dann ist das allerdings skurril. Eine Ethik überfordert uns, wenn sie uns zwingt, jeden Schritt, den wir tun, zu überdenken, weil er eine Ameise das Leben kosten könnte. Sie ist nicht durchzusetzen und damit sinnlos. Das besagt die alte Regel, dass Sollen Können voraussetzt. Also: Zum Leidwesen der Milane wird der Biozentrismus vom Platz gestellt.
Ökozentrismus subjektiv
Aldo Leopold hat einen Ökozentrismus propagiert. Dieser spricht der Natur und je nach Spielart auch allen ihren Lebewesen einen Eigenwert zu, weil sie natürlich sind. Aber leider sind die Gründe für diese Ethik denkbar schlecht. So berufen sich ihre Vertreter auf die Theologie (Natur als Mitgeschöpf) oder auf Erfahrungen der Einheit von Mensch und Natur in der Mystik. Aber Ethik muss gegenüber allen begründbar sein, nicht nur gegenüber Gläubigen oder Mystikern. Wenn man die Welt als einen Superorganismus auffasst, kann man eventuell verteidigen, dass Mensch und Natur beide gleichberechtigte Teile in diesem Weltganzen sind.
Viele Ökozentriker behandeln die Natur als ein Subjekt, dem Interessen und daher auch ethische Rechte zukommen. Aber die Natur insgesamt besitzt nach allem, was wir wissen, keine der Eigenschaften von Subjekten, sie kann nichts empfinden, ist sich ihrer selbst nicht bewusst, kann nicht handeln oder rational überlegen. Etwas als Subjekt zu behandeln, das keine der Eigenschaften eines Subjekts hat, ist willkürlich. Die Position ist mit einem modernen wissenschaftlichen Weltbild kaum vereinbar.
Fazit: In der philosophischen Ethik lässt sich gut argumentieren, dass der Klimaschutz Priorität vor dem Naturschutz haben sollte, auch wenn man sich nach Kräften bemühen müsse, möglichst beides zu gewährleisten. Denn Mensch und Tier profitieren vom Naturschutz, wenn auch nicht in gleicher Stärke wie vom Klimaschutz. Dieses Ergebnis sollte die Politik als Orientierungshilfe im Auge behalten.