: Wenn der Hisgier dreimal ruft
Sie bedecken ihr Haupt mit Stroh und hängen sich große Glocken um die Taille. Markus Bulliks Bilder wirken, als seien sie in entlegenen Regionen der Erde aufgenommen worden. Porträtiert hat der Ethnologe und Fotograf seine „Brauchgestalten“ aber in süddeutschen Dörfern
Von manchen Worten wusste man gar nicht, dass die deutsche Sprache sie hat. „Buttenmandl“ zum Beispiel, „Hisgier“ und „Pfingsthäs“. Begriffe, die exotisch und archaisch wirken und mit denen der norddeutsch-protestantische Städter wenig anfangen kann. In südlich-katholischen Gefilden dagegen werden sie verständlich – vorausgesetzt, man studiert die Dialekte in den dortigen Dörfern. Genau das hat der Ethnologe und Fotograf Markus Bullik getan; die Resultate sind amüsant bis erschreckend. Als stammten sie aus entlegenen Siedlungen Afrikas, wirken die „Brauchtumsgestalten“, die Bullik abgelichtet hat – in Oberbayern, im Schwarzwald und auf der Schwäbischen Alb.
Und man kann sich eine ganze Weile lang nicht entscheiden, ob man die detaillierten Bildunterschriften studieren soll oder nicht, so ästhetisch und würdevoll wirken die Fotos dieser Verkleideten. Während man noch überlegt, warum sich ein junger Mann in ein Kostüm aus geflochtenem Roggenstroh zwängt, um das einzige Sichtfenster dann auch noch zu verschließen, saugen sie einen allmählich ein, diese ernsthaften Performer. Man beginnt sich zu fragen, ob sie nicht triftige Gründe dafür haben dürften, in klobigen Stroh- und Kuhglocken-Kostümen herumzulaufen. Ob es nicht Sinn hat, zu Beginn der Kirmes einen Ochsenschädel aus- und später wieder einzugraben.
Kein Zweifel: Die von Bullik dokumentierten Akteure sind durchweg erfüllt vom Sinn dessen, was sie tun; mit selbstbewusstem Stolz blicken sie in die Kamera. Und sollte man, ganz norddeutsche StädterIn, zu Beginn des Ausstellungsrundgangs noch leichte Überheblichkeit gespürt haben – sie gibt sich ganz schnell. Vielleicht, so denkt man stattdessen, sind diese Bräuche ja viel weniger barbarisch als so manche urbane Freizeitbeschäftigung? Womöglich schweißen diese merkwürdigen Rituale die Dorfgemeinschaft zusammen? Dienen die Rüpeleien der Goaßenschnalzer beim Wolfauslassen als Ventil für Aggressionen, die andernfalls unkontrolliert im Alltag ausbrächen? Hilft solch zelebrierter Volksglaube, dem harten Winter besser standzuhalten – und fällt die Ernte vielleicht wirklich reichhaltiger aus?
Während man sich dabei ertappt, solch romantisierenden Gedanken nachzuhängen, wird man einigermaßen jäh in die Realität zurückgeholt: „Da unter dem Schutz der Masken manche Rechnung zum Ausgang des Jahres beglichen wurde“, ist da zu lesen, „kontrolliert die Polizei heutzutage das Treiben der Wilden Klausen.“ Aus ist’s mit der Idylle: Auch diese folkloristischen Harmlosigkeiten lassen sich missbrauchen; patriarchalisch scheinen einem jetzt die sämtlich männlichen Gestalten, die da Winter austreiben und um gute Ernte bitten, sprich: im Advent, zu Ostern und Pfingsten Konjunktur haben. Die unter Kreischen um die Häuser ziehen und deren Bewohner zur Herausgabe von Geld, Speck und Eiern nötigen.
Was soll man also halten von diesen Fotos, die selbst Rituale sind: Eine gemächliche Großbildkamera benutzte Bullik, verschwand für jede Aufnahme unter einem Tuch und ließ die Porträtierten den Atem anhalten, bis das Foto im Kasten war. Die Fotografierten seien sehr beeindruckt gewesen, erzählte Bullik später. Die Fotos – entstanden in den 1990er Jahren – seien Teil der jeweiligen Rituale geworden. Mag sein. Ob jedoch Winteraustreibungs- und Regenrituale in Zeiten von Zentralheizung und EU-Obstbergen ihren Sinn wahren, beantworten diese Aufnahmen nicht. Ästhetisch und würdevoll Archaisches porträtieren, das sich bis heute in deutschen Landen findet, das tun sie – im rein Deskriptiven verharrend. Nicht etwa ziehen sie Parallelen zu großstädtischen Alltags- und Theaterritualen oder fragen nach der vergleichbaren Ventilfunktion von Videos. Ebenso wenig thematisieren sie die Lust am Verborgensein unter der Maske – die sie aber, möglicherweise, bei manchem Betrachter hervorrufen. PETRA SCHELLEN
Markus Bullik: „Brauchgestalten der Dorfgesellschaft“, bis 10. 12. im Altonaer Museum, Hamburg