: „Mit Berliner Luft kriege ich sie alle“
Jürgen Hilbrecht
Am 16. Oktober 1906 erbeutete der Schuster Wilhelm Voigt die Köpenicker Staatskasse. Bürgermeister und Stadtbeamte leisteten keinen Widerstand: Seine Verkleidung, eine preußische Hauptmannsuniform, gab Voigt die nötige Autorität. Seitdem ist der „Hauptmann von Köpenick“, dem Carl Zuckmayer 1931 ein Theaterstück widmete, ein Volksheld. Der Berliner Jürgen Hilbrecht, 64, wurde mit der Rolle zum Volksschauspieler: Seit fünfzehn Jahren bringt der Absolvent der renommierten Ernst-Busch-Schauspielschule als berlinernder Hauptmann Touristen und Köpenicker zum Lachen.
VON NINA APIN
taz: Herr Hilbrecht, seit wann sind Sie dem Hauptmann von Köpenick verfallen?
Jürgen Hilbrecht: Als junger Schauspieler war der Hauptmann für mich eine Rolle wie jede andere. Doch als ich für das von mir gegründete Stadttheater Köpenick mein eigenes Soloprogramm entwerfen musste, merkte ich, wie gut der Umgang mit dieser Figur zu mir passt. Der Hauptmann, dazu die hintersinnigen Lieder von Otto Reutter. Und die Berliner Schnauze. Das ist bis heute mein Programm.
Wurden Sie durch dieses Bühnenprogramm zum Volksschauspieler?
Ja, in dem Moment als ein Zuschauer in meiner Premiere des Otto Reutter- Abends aufstand und rief: „Jetzt hat nicht nur München einen Volksschauspieler, sondern auch Berlin!“. Da dachte ich: Das nehme ich an! Seitdem singe ich mit der Uniformmütze auf dem Kopf: „Nehm’ Se ’nen Alten“ oder „In fünfzig Jahren ist alles vorbei“.
Wie unterscheidet sich der Hilbrecht-Hauptmann von den Interpretationen seiner berühmten Vorgänger Harald Juhnke und Heinz Rühmann?
Das kann man nicht vergleichen, denn beide spielen eine dramaturgisch konzipierte Rolle in dem Stück von Carl Zuckmayer. Mein Hauptmann ist der Entertainer, er soll die Leute aus dem Alltag heben und erheitern, ihnen aber auch Mut machen. Als Wilhelm Voigt die Uniform klaute, war er 57 und hatte fast die Hälfte seines Lebens im Knast verbracht. Aber statt auf Hartz IV hängen zu bleiben, wurde er selbst aktiv.
Der Hauptmann von Köpenick als Vorbild für Hartz-IV-Empfänger?
Ein leuchtendes Vorbild ist der Mann nun gerade nicht. Aber mir gefällt, dass er den Mut hatte, aus seinem verkorksten Leben etwas zu machen, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Und es gefällt mir, dass er so ein Berliner Schlitzohr war und das Obrigkeitsdenken auf die Schippe nahm. Eine mit wenig Geld erstandene Uniform, und schon stehen alle stramm! Das ist doch herrlich!
Der Schuster Wilhelm Voigt war eigentlich Ostpreuße …
Ja, aber Carl Zuckmayer machte ihn in seinem Theaterstück zum Berliner. Mir kommt das gelegen, ich berlinere gerne. Und das Publikum liebt es, wenn ich rumpoltere: „Schnauze, Krause, sonst Prothese!“ So mögen die den Berliner: als schnoddrigen Haudegen, der es nie wirklich böse meint.
Spielen Sie ein Klischee?
Nein, eine Kabarettfigur. Der Berliner mit Herz und Schnauze ist natürlich genauso ein Mythos wie der Hauptmann. Aber an beiden ist etwas dran, was die Leute zu rühren vermag. Sie haben das Gefühl, dass da oben auf der Bühne einer von ihnen steht. Das ist Volkstheater.
Ist das Volksschauspiel eine Sackgasse für einen ausgebildeten Schauspieler?
Es ist ein Missverständnis, dass das Volkstheater nur aus Schenkelklopfen und Witzen besteht. Es schließt Niveau und Nachdenklichkeit keineswegs aus. Der „Urfaust“ oder Shakespeare sind auch Volkstheater. Der Unterschied liegt nicht im Stoff, sondern in der Herangehensweise – dem Zuschauer und nicht nur für Intellektuelle zugänglich.
Anders gefragt: Werden Sie nicht manchmal müde, den Hauptmann zu spielen?
Wenn ich immer im gleichen Kostüm die gleichen Witze machen müsste, würde ich sterben. Aber meine Auftritte leben von der Improvisation. Es macht Spaß, mit dem Publikum zusammenzuspielen und neue Situationen zu schaffen: Mal zieht mir eine Dame den Schuh aus, mal singt ein ganzer Schützenchor spontan ein Lied … Ich langweile mich nie!
Auch der Hauptmann langweilt Sie noch nicht?
Im Gegenteil, ich entdecke immer neue Facetten an ihm. Und das gerade jetzt. Denn jetzt probiere ich an einem ganz neuen Stück über den „Hauptmann von Köpenick“, über den Wilhelm Voigt: „Das Schlitzohr von Köpenick“ Schuster, Hauptmann, Vagabund. Es wurde wohl extra für mich geschrieben und erzählt das Leben des Wilhelm Voigt vom Schulkind über den Ausreißer, den Sträfling, den Werkmeister, den Hauptmann von Köpenick und danach in Luxemburg, wo er Geld hatte und sogar heiraten wollte. Doch 1922 stirbt er alleine und verarmt in Luxemburg. Dieses neue Stück haben die beiden Fernsehautoren Felix Huby und Hans Münch aus Anlass „100 Jahre Köpenickiade“ geschrieben, und es wird ab dem Vorabend der Köpenickiade in Köpenick auf die Bühne kommen.
Ist das ein Schritt in Richtung Charakterdarstellung, weg von der Kabarettfigur in Uniform?
Ich gebe es zu: Hier geht es um meinen Ehrgeiz als Schauspieler. Ich will’s noch mal wissen mit dem Hauptmann. Das „Schlitzohr“ soll ein Theaterpublikum erreichen. Das ist schwer, denn Köpenick liegt weit draußen, und der „Hauptmann“ gilt als abgedroschen. Aber ich werde auch vor fünf Leuten spielen. Denn ich glaube, dass uns Wilhelm Voigts Geschichte, sein Leben, noch viel Wichtiges zu sagen hat: Rührt euch, nehmt euer Leben in die Hand, hinterfragt Autoritäten.
Fühlen Sie sich dem „Schlitzohr“ und Schuster eigentlich wesensverwandt?
Ich sehe ihm mit den Jahren tatsächlich immer ähnlicher. Aber sonst hält sich die Identifikation in Grenzen. Ich bin schließlich Schauspieler, kein Selbstdarsteller. Um einer alten Dame zum 95. zu gratulieren, ziehe ich manchmal den Hauptmannsrock an. Aber über den Marktplatz laufe ich damit nicht. Privat bin ich übrigens nicht unbedingt ein lustiger Vagabund, sondern manchmal eine ganz schöne Zicke. Fragen Sie meine Frau!
Auf Ihrem Klingelschild steht der Namenszusatz „Der singende Hauptmann von Köpenick“. Das deutet allerdings schon auf eine gewisse Identifikation hin.
Das mache ich, um mein jahrelang aufgebautes Image zu verteidigen. Ich will mich von Leuten abheben, die in der Uniformjacke rumlaufen, um Kohle zu machen. Hilbrecht, der singende Hauptmann, ist ein Qualitätsprodukt, das ich zu einer Kulturmarke ausbauen will.
Das klingt jetzt aber gar nicht mehr volkstümlich …
Sehen Sie, ich erlerne gerade einen neuen Beruf. Ich werde auch noch Tourismusförderer. Wenn ich zu Ihnen Salzburg sage, an wen denken Sie da?
Mozart?
Genau! Und Köpenick soll die Hauptmann-Stadt werden. Aber das schafft man nur mit einem Konzept. Zum 100. Jubiläum der Köpenickiade wollte ich mich von einem Kran abseilen. Mit Hauptmannsuniform und Engelsflügeln. „Der Hauptmann ist zurück!“ Das wäre ein schöner PR-Gag gewesen. Aber man war nicht so begeistert.
Ihr Hauptmann-Abend im Ratskeller Köpenick ist doch bereits ein Touristenmagnet. Wozu brauchen Sie da noch Tourismusförderung?
Köpenick ist ein Randbezirk, nur wegen des Wassers kommt man nicht hierher, das gibt es auch woanders. Aber den Hauptmann haben nur wir. Das muss man doch nutzen! Ich habe bisher rund 2.400 Veranstaltungen mit 500.000 zahlenden Gästen gemacht. Wenn ich eines Tages nicht mehr bin, muss jemand meine Arbeit weitermachen.
Vielleicht identifizieren sich ja nicht alle Köpenicker so mit der Hauptmann-Geschichte wie Sie?
Tourismus-Marketing ist doch nichts Böses! Es bringt das Geld von anderswo zu uns. Das begreifen viele hier noch nicht, die wollen lieber ihre Ruhe. Ich wohne schon lange hier und weiß die Beschaulichkeit zu schätzen. Aber mehr Hauptmann-Touristen können wir gebrauchen, das beginnen die Leute langsam einzusehen.
Sind Sie ein Überzeugungstalent?
Klar, das ist mein Beruf. Als Entertainer muss ich mein Publikum jedes Mal aufs Neue von mir überzeugen. Ich habe den Ehrgeiz, mindestens 99 Prozent des Publikums auf meiner Seite zu haben. Auf der Bühne klappt das meistens auch.
Auf der Bühne lustig sein – kann man das auch auf der Schauspielschule lernen oder ist das eine Naturbegabung?
Nicht jeder ist für lustige Rollen geeignet, das ist schon eine Typfrage. Aber in einem Kabarettabend steckt auch sehr viel Handwerk und gesunde Routine. Man testet schrittweise die Stimmung des Publikums und reagiert dann flexibel mit den passenden Scherzen. Durch die persönliche Ansprache binde ich die Leute ein. An besonders gelungenen Abenden machen die Zuschauer das Programm und ich gebe nur ein paar Zeichen.
Sind Sie schon einmal an einem Publikum gescheitert?
An einer Gruppe aus Niederbayern. Die saßen mit unbewegten Gesichtern da und begriffen gar nichts, da konnte ich machen, was ich wollte: Sie verzogen keine Miene. Ich musste zum Äußersten greifen, um den Abend wenigstens einigermaßen über die Bühne zu bringen.
Singen?
Sie haben’s erfasst. Mit „Bolle reiste jüngst zu Pfingsten“ oder „Berliner Luft“ kriege ich sie alle, das ist todsicher.
Wie schaffen Sie es, den schmalen Grat zur Beleidigung nicht zu überschreiten?
Meistens kann ich mich auf meinen Instinkt verlassen und das Publikum richtig einschätzen. Wirklich Verletzendes, wie sexistische Witze über Frauen, ist bei mir sowieso tabu. Nur einmal ging es schief, beim katholischen Landfrauenbund. Ich trank ein Bier auf der Bühne, da lief eine Frau hinaus und rief: „Entfernt diesen Mann! Er ist ein Trinker!“ Dass die da so empfindlich waren, konnte ich nun wirklich nicht ahnen.
Wie schaffen Sie es, überzeugend lustig zu sein, wenn Sie selbst einmal schlechte Laune haben?
An der Schauspielschule habe ich gelernt, meine privaten Befindlichkeiten hinter mir zu lassen, wenn das Licht angeht. Die Ethik des Schauspielers heißt: Du hast dem Publikum zu dienen. Das ist ähnlich wie bei den Ballettratten: lächeln, auch wenn die Zehen bluten.
Welche Rolle würde Sie noch reizen?
Ich möchte den Einstein spielen, in einem extra für mich geschriebenen Stück. Aber das ist Schauspieler-Eitelkeit. Mein ganz persönlicher Traum geht so: Ich spiele mein Otto-Reutter-Programm zusammen mit dem „Schlitzohr“. Hier in Köpenick. Und es kommen jeden Abend hundert Leute. Mehr will ich nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen