: „Eingebildete Kranke“ sind krank
betr.: „Franz Kafkas rentable Leiden“, taz vom 29. 9. 06
Dieser Artikel von Herrn Zittlau schlägt dem Fass den Boden aus. Zittlau behauptet: „Hypochonder (sorgen) meist für Spott und Ärger. Auch in der Arztpraxis. Was allerdings deren Eigentümer nicht daran hindert, ihre eingebildeten Kranken aufwendig und teuer zu betreuen.“ Später kommt dazu der Verdacht, dass die Hypochonder als lohnende Renditeobjekte gehalten werden. Hier empfiehlt sich dringend der Blick in simple Psychiatrielehrbücher oder noch besser „Die Internationale Klassifikation der psychischen Störungen“. Nach etwa zwei Minuten wäre Herrn Zittlau klar gewesen, dass die permanente Beschäftigung des Hypochonders mit „seiner“ Krankheit einschließlich der dazugehörigen Arztbesuche zum Krankheitsbild gehört. Hypochonder sind keine „eingebildeten Kranken“, sondern leiden an einer psychischen Erkrankung. Diese Patientenklientel besteht mit sehr viel Energie und Penetranz auf wiederholten Untersuchungen und wechselt dafür notfalls von einem Arzt zum nächsten. Normalbefunde verschaffen mitunter Erleichterung, aber nur für kurze Zeit. Es ist krankheitsbildtypisch, dass die Patienten Vorstöße in die Psycho-Richtung brüsk zurückweisen.
Für den Fall empfiehlt Herr Zittlau sehr klug, „behandelt man durch Psychotherapie und spezielle Arzneimittel und nicht dadurch, dass man ihre Zwangsvorstellungen hofiert“. Das ist ganz sicher auch den allermeisten Ärzten bekannt. Schicken Sie aber mal einen Hypochonder, der felsenfest von einer körperlichen Erkrankung überzeugt ist, zum Psychotherapeuten! Hypochondrische Patienten sind nicht annähernd offen für psychologische Erklärungen. Da ist oft jahrelange, geduldige Feinarbeit nötig.
„Angeordnete“ Psychotherapien bei fehlender Eigenmotivation des Patienten sind sinnlos, klingen bloß gut in den Ohren derjenigen, die die ewigen Klagen nicht mehr ertragen, oder in schlecht recherchierten Filmen. Der Hypochonder braucht Jahre dafür, eine Eigenmotivation für eine Psychotherapie aufzubauen.
Herr Zittlau bezeichnet die hypochondrische Störung als Zwangsstörung. Das ist falsch. Beide zählen zwar zu der großen Gruppe der neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen, sind aber voneinander klar abzugrenzende Krankheiten. Das ist in etwa so, als würde man sagen, die taz erscheine hin und wieder unter der Bezeichnung Bild-Zeitung, sei aber ansonsten das Gleiche.
Dass Hypochonder als lohnende Renditeobjekte gehalten werden, darf man getrost als Unterstellung bezeichnen. Hier widerspricht sich Herr Zittlau auch, da er selbst schreibt, dass sich viele Ärzte für Hypochonder deutlich mehr Zeit nehmen – das wird in diesem Gesundheitssystem finanziell nicht belohnt. ANNE STERNER, Berlin