Auf dem Schlachtfeld der Angst

Heute knacken die USA die 300-Millionen-Einwohner-Marke. Doch das hispanische Rekordbaby wird mit gemischten Gefühlen begrüßt. Zuwanderung, einst Beweis der Virilität und Attraktivität eines ressourcenreichen Landes, ist zum Zankapfel geworden

Der Streit zwischen dem Ideal einer offenen Gesellschaft und „Das Boot ist voll“-Szenarien geht quer durch beide politischen Lager

VON ADRIENNE WOLTERSDORF

Neulich ruderten hunderte Menschen in Fischerbooten, Ruderbooten und Kajaks über den Willamette, der durch Portland im US-Westküstenstaat Oregon fließt. Ihr Ziel war die Lachs-Demo in einem Park in der Innenstadt. Denn der Wildlachs, die Ikone des pazifischen Nordwestens, droht auszusterben. Für Portland, eine der „grünsten“ Städte der USA, war es ein recht normales Ereignis.

Am heutigen Dienstag, nach Berechnungen der US-Statistikbehörde um 7.46 Uhr Ortszeit, also 13.46 Uhr mitteleuropäischer Zeit, wird sich mehr als 1.000 Kilometer weiter südlich, in Los Angeles, ebenfalls etwas völlig Alltägliches ereignen. Ein Baby kommt zur Welt. Es wird wohl Luis oder Maria heißen, seine Eltern werden mexikanische Einwanderer sein, die kaum Englisch sprechen. Und zu Hause werden schon zwei in den USA geborene Geschwister warten.

Das Baby wird die – oder der – 300-millionste BürgerIn der Vereinigten Staaten sein. Begrüßt wird es mit gemischten Gefühlen. Was nun hat in den USA die Boots-Demo für das Überleben der Pazifiklachse mit diesem bevölkerungsstatistischen Ereignis zu tun? Neuerdings sehr viel. Denn so wie die Portländer Fischfreunde gegen die zunehmende Besiedlung ihrer attraktiven Region um das Columbia-Flussbecken herum demonstrieren, sind auch viele US-Amerikaner nicht mehr glücklich darüber, dass ihr Land so viele Menschen herbeilockt.

Doch zunächst ein paar Zahlen: Demografisch sind die USA ein Wunderkind. Denn seit der Unabhängigkeitserklärung vor 230 Jahren wächst die amerikanische Bevölkerung. Zwischen Maui und Manhattan kommt heute alle elf Sekunden ein Mensch hinzu. Eine Anomalie für ein hochentwickeltes, wohlhabendes Industrieland. Und ganz anders als in Europa und Japan mit ihren anämisch vor sich hin schrumpfenden Bevölkerungen werden die 100-Millionen-Schritte immer schneller aufeinanderfolgen: Von der Unabhängigkeitserklärung 1776 bis zu den ersten 100 Millionen brauchte es 139 Jahre. 200 Millionen waren 52 Jahre später erreicht. Bis zu den 300 Millionen waren es dann nur noch 39 Jahre. Die nächste runde Zahl wird schon für 2043 erwartet.

Während am 20. November 1967 aus manchen Regierungsgebäuden in Washington Jubelrufe zu hören waren, als Robert Ken Woo Jr. in Atlanta das Licht der Welt erblickte und Präsident Lyndon B. Johnson sogar vor lauter Applaus seine Rede zum eben geborenen 200-millionsten US-Bürger unterbrechen musste, erwartet das heutige Jubiläumsbaby nur Schweigen. Denn was einst als Beweis der Virilität und Attraktivität eines ressoucenreichen Landes galt, jagt heute eher Angst ein. Grund dafür ist eine kritische Bestandsaufnahme des eigenen Lebensstils: des Hungers nach immer größeren Häusern, immer größeren Autos, Sackgassenlandschaften, Shoppingmalls und Öl.

Von dieser selbstkritischen Introspektion ist es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zur Feststellung, dass rund 40 Prozent des US-Bevölkerungswachstums aus Immigration resultiert. Latinos machen heute den größten Teil der Neuankömmlinge aus. Zudem haben hispanische Frauen im Schnitt ein Kind mehr als weiße. Die Statistiker erwarten, dass sich der Anteil der Latinos bis zum Jahr 2050 auf fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung verdoppeln wird. Auch für Amerikaner mit asiatischen Wurzeln erwarten die Statistiker eine Verdopplung auf 8 Prozent. Der Anteil der AfroamerikanerInnen hingegen soll bei etwa 14 Prozent stabil bleiben – nur der Anteil der weißen US-AmerikanerInnen wird von heute knapp 70 auf 50 Prozent schrumpfen.

Gewichtige Stimmen warnen deswegen vor unabsehbaren politischen und sozialen Verwerfungen. Viele der ImmigrantInnen aus dem Süden seien arm und kaum ausgebildet, schreibt der Kolumnist Robert Samuelson. In die Mittelklasse aufzusteigen sei schwer. „Das lässt Einwanderung für Millionen von Amerikanern bedrohlich erscheinen, weil sie ihr Land von einer ausländischen Unterklasse überrannt sehen.“ Und weil die wohlhabende (weiße) Generation der Babyboomer bald alt und klapprig sein wird, könnten sich die jungen Neuankömmlinge aus dem Süden fragen, weshalb sie eigentlich für deren Versorgung durch Pensionsfonds und Krankenkassen aufkommen sollen.

Einwanderungspolitik, so zeigt es sich seit vergangenem Jahr, ist ein treffliches Schlachtfeld für die Ängste und Visionen einer Nation geworden, die selbst aus (illegalen) ImmigrantInnen entstanden ist. Vor allem die Einwanderer aus Mexiko sind zum Zankapfel in den USA geworden. Ob Liberale oder Konservative, der Streit zwischen dem Ideal einer offenen Gesellschaft und „Das Boot ist voll“-Szenarien geht quer durch beide politischen Lager. Gerade ringt der Kongress um die Finanzierung des unter lautem Getöse beschlossenen 1.200 Kilometer langen Zauns, der ungebetene ZuwandererInnen vom anderen Ufer des Rio Grande fernhalten soll. Weiße Bürgerwehren patrouillieren in ihrer Freizeit entlang der amerikanisch-mexikanischen Grenze auf der Jagd nach Illegalen. Menschenrechtsgruppen hingegen versorgen die GrenzgängerInnen mit Wasser und Nahrung, während Ökonomen in Excel-Tabellen ausrechnen, wie viele Billigarbeitskräfte die USA künftig brauchen, um sich ihren Lebensstandard weiterhin leisten zu können.

Die Optimisten in dieser ideologischen Schlacht winken angesichts der Schreckensszenarien von überfüllten und überfremdeten Städten ab. Sie sehen im Wachstum eher ein Zeichen für eine wirtschaftlich dynamische Demokratie mit Magnetwirkung. „Das belegt so gut wie kaum etwas anderes die Attraktivität der Wirtschaft und des Gemeinwesens der USA“, sagt der ehemalige Leiter der US-Zensusbehörde und heutige Professor für öffentliche Angelegenheiten an der New Yorker Columbia-Universität, Kenneth Prewitt. Schließlich sehe man „nicht viele Menschen, die sich darum reißen, nach China einzuwandern“.

Um ihren Optimismus zu untermauern, wedeln die Positivisten in diesen Tagen mit dem nur noch in Trödlerkisten zu findenden US-Bestseller des Jahres 1968. „Die Bevölkerungsbombe“ von Stanford-Professor Paul Ehrlich, der dem Planeten bei steigender Bevölkerung Hungerkriege und massenhaften Tod voraussagte. Statt von Hunger würden die US-Bürger eher von Übergewicht und Diabetes gequält, kontert Prewitt. So wie Ehrlichs Annahmen Quatsch gewesen seien, würden sich auch die heutigen Ängste als obsolet erweisen. Gerade weil die Amerikaner so verschwenderisch lebten, sei mit fortschreitender Technologie noch viel Luft rauszulassen, meint er.

Rechte Republikaner wie Patrick Buchanan hingegen bemühen heute ungeniert die Rassenfrage. In Huntington’scher Manier entwerfen sie einen zweiten Untergang des Abendlandes. In seinem neuen Buch, „State of Emergency: The Third World Invasion and the Conquest of America“, schreibt er, dass die Vereinigten Staaten wiedererobert werden von virusinfizierten Latinos. Wenn es den Amerikanern europäischer Herkunft nicht gelinge, die Grenzen zu versiegeln, gehe ihre zivilisationsbringende Dominanz bald zu Ende.

Worauf sich allerdings Optimisten und Schwarzseher weitgehend einigen können, ist die Aussage, dass es trotz oder wegen der 300 Millionen wahrscheinlich in Zukunft schwerer sein wird, den CO2-Ausstoß zu reduzieren, als für mehr Nahrung zu sorgen. Laut Berechnungen von unabhängigen Umweltorganisationen beträgt der „ökologische Fußabdruck“ des durchschnittlichen US-Einwohners, also die Menge an Land, die benötigt wird, einen Menschen zu versorgen, bereits knapp 10 Hektar. Folgt man dieser Berechnung, würden die natürlichen Ressourcen nicht einmal für die gegenwärtige Bevölkerungszahl ausreichen. Das bedeutet, so Vicky Markham vom Center for Environment and Population in Connecticut, dass die USA längst die Ressourcen anderer Länder konsumieren und damit die weltweit größte ökologische Auswirkung haben.

Da kann es den Rest der Welt nicht wirklich beruhigen, wenn Optimisten wie Samuelson auf die Fähigkeit „Amerikas“ pochen, Neuankömmlinge schneller zu verändern, als die Neuen es schaffen, die amerikanische Gesellschaft zu verändern. Käme der französische Beobachter Alexis de Tocqueville, Autor des 1835 erschienenen Bestsellers „De la Démocracie en Amerique“, heute wieder vorbei, ist er sich sicher, dass dieser die gleichen Beobachtungen erneut machen könnte. Tocqueville hatte den Amerikanern Eigenschaften wie ungezügelten Materialismus, religiösen Eifer und leidenschaftlichen Patriotismus attestiert. Im Jahr 1830 hatten die USA eine Bevölkerung von 13 Millionen.