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Archiv-Artikel

„Das Radikalste, was wir bisher gemacht haben“

EXPERIMENTELLE MUSIK Die Berliner Band Zeitkratzer spielt heute zum ersten Mal beim Jazzfest Berlin, zusammen mit den Jazz-Musikern Terje Rypdal und Palle Mikkelborg. Ein Gespräch mit dem Bandleader Reinhold Friedl über Noise-Soli und unbewaffnete Grenzen

Reinhold Friedl

■ Reinhold Friedl kam 1964 zur Welt, 35 Jahre später gründete er in Berlin das Ensemble Zeitkratzer. Neben Musik studierte der Pianist auch Mathematik.

INTERVIEW TIM CASPAR BOEHME

taz: Herr Friedl, was macht Zeitkratzer eigentlich für Musik, auf einen Begriff gebracht?

Reinhold Friedl: Eigentlich ist es das Vergnügen, sich selbst abhandenzukommen. Wenn man so ein Ensemble mit Musikern hat, die so potent und vielseitig sind und so verschiedene Hintergründe haben, dann ist ja auch die Chance, dass man mit vielen unterschiedlichen Leuten zusammenarbeiten und viele unterschiedliche Sachen machen und lernen kann.

Bei bisherigen Kollaborationen waren die Partner weit extremer, sei es der japanische Gitarrenberserker Keiji Haino oder das Projekt mit den Industrial-Krachern Whitehouse. Die Klanginnovatoren Terje Rypdal und Palle Mikkelborg gehören eher dem gemäßigten Spektrum an. Veröffentlicht Zeitkratzer demnächst auch auf deren Stammlabel ECM?

Nein. Das ist total lustig, das so zu sagen, denn manche der Musiker meinten gerade in der Probe, das sei das Radikalste, was wir bisher gemacht haben, weil es nicht so radikal ist. In meiner jugendlichen Karriere habe ich Terje Rypdal gehört, und da gibt es frühe Sachen mit Garbarek, die richtige Noise- und Free-Jazz-Sachen, also extreme Geschichten waren. Und dann gibt es natürlich die großen Klanglandschaften, und da kommt der Bezug über den Klang zustande. Aber wenn man zu einer Jazzwerkstatt eingeladen wird, dann ist es spannend, sich mit jemandem auseinanderzusetzen, der auch in diesen Bereichen verkehrt.

Wie waren die Proben mit Rypdal und Mikkelborg? Konnte man sich schnell auf eine gemeinsame Strategie einigen?

Die beiden haben ein Konzept mitgebracht, haben Stücke vorbereitet, Vorschläge, Ablaufpläne und so weiter. Daran haben wir zwei, drei Tage gearbeitet. Terje spielt ein Noise-Solo auf der Gitarre, dazwischen kommen auch jazzige Sachen, so ein Strawinksky-artiges Thema mit Bläsern.

Ist dies das erste Jazz-Projekt von Zeitkratzer?

Wenn man das Jazz nennen mag: Jein. Wir haben mit Butch Morris auch schon was gemacht. Ob das nun Jazz ist … Es ist eh die Frage. Das interessiert uns sowieso nicht besonders, was jetzt Jazz ist.

Das Spektrum Ihres Programms reicht von Klassikern des 20. Jahrhunderts wie John Cage bis zu experimenteller Volksmusik. Gibt es für Sie musikalische Grenzen?

Keine bewaffneten. Irgendwelche Mauern stehen nicht rum. Aber es gibt natürlich Musik, die nicht in Frage käme, bei der ich nicht sehen würde, dass die reizvoll wäre. In Popmusik zum Beispiel kenne ich mich total schlecht aus, bei Madonna würde mir erst einmal nichts einfallen. Aber wenn ich jetzt nachdenke, könnte man sagen, hey, man könnte auf diesen oder jenen Aspekt eingehen.

■ „Beyond“ zeitkratzer vs. Terje Rypdal & Palle Mikkelborg, Haus der Berliner Festspiele, heute, 19 h