piwik no script img

Archiv-Artikel

„Gravierende Konstruktionsfehler“

Die Diskussion um die „Neue Armut“ ist für die SPD doppelt bitter: Als Bilanz zweier Legislaturperioden und als Warnung, ihre ureigenste Klientel aus den Augen verloren zu haben. Ein Gespräch mit Detlev Albers, Mitglied des SPD-Parteivorstands

VON FRIEDERIKE GRÄFF

taz: Herr Albers, Angesichts des Begriffsstreits zwischen „Neuem Prekariat“, „Unterschicht“ und „Menschen mit sozialen und Integrationsproblemen“ – wie würden Sie diejenigen nennen, die unter der neuen Armut leiden?

Detlev Albers: Ich halte den Begriffsstreit für müßig. In der Vergangenheit hieß das in der Arbeiterbewegung auch die „Lazarusschicht“. Gemeint war jenes Segment unserer Gesellschaft, das abgehängt von der Mitwirkung in der Gesellschaft in die Resignation getrieben wird.

Wie der arme Lazarus aus dem biblischen Gleichnis – dem wird aber erst von den Engeln geholfen.

Der Begriff ist so missverständlich wie die aktuell eingeführten künstlichen Wortschöpfungen. Das sind für mich aber sekundäre Momente, die zurücktreten hinter dem Befund, dass fünf Generationen nach der Industrialisierung in Deutschland wieder ein Millionen zählender Teil der Bevölkerung abgehängt wird.

Dieser Befund muss für die SPD nach zwei rot-grünen Legislaturperioden bitter sein.

Der Befund ist bitter – und er verlangt Antworten. Wir versuchen das mit dem Ausdruck „vorsorgenden Sozialstaat“ in unserer Programmdebatte umreißen.

Wie könnte der Staat denn künftig anders vorsorgen?

Beispielsweise auf dem Feld der aktiven, initiierenden Arbeitsmarktpolitik, durch Umschulung in großem Stil für diejenigen, die aus ihren Arbeitsplätzen gedrückt werden. Das ist eine Frage, die allzu oft durch neumodische Effizienzforderungen von Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden unter die Räder kommt.

Dabei glauben immer weniger an den Einfluss der Politik auf den Arbeitsmarkt.

Das hängt mit unserem Staatsverständnis zusammen. Wollen wir einen Nachtwächterstaat, der nur noch zusieht, wie der Markt dominiert? Das ist aber strikt gegen die Intention mit der Sozialdemokraten für einen leistungsfähigen Staat kämpfen.

Ein solcher leistungsfähiger Staat bräuchte allerdings mehr Geld für diese Maßnahmen – und das in einem Bereich, der gerade eher beschnitten wird.

Wir stehen natürlich angesichts der Globalisierung vor harten Konkurrenzproblemen, denen wir begegnen, indem wir unsererseits unsere Stärken ausbauen. Das heißt: Wir müssen mehr in Bildung investieren und wir müssen ein anderes Augenmerk auf die zweite Generation von Migranten legen.

Die Forderung nach mehr Augenmerk auf die Bildung wird jetzt schon länger erhoben, ohne dass man mehr Geld dafür ausgeben wollte.

Das ist eine Frage an die Mobilisierung der Politik für gesellschaftliche Ziele. Und unbestreitbar ist hier ein Defizit auch in den Teilen unseres Landes, in dem die Sozialdemokraten Verantwortung tragen.

Hat die SPD also in den letzten Jahren ihre ureigenste Klientel aus den Augen verloren?

Das haben wir nie. Die Arbeitslosigkeit muss nur immer wieder mit neuen Impulsen bekämpft werden.

Der Studie des Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge würden weite Teile der unteren Mittelschicht und des so genannten Prekariats, die 2005 noch für die SPD gestimmt haben, jetzt die Linkspartei wählen. Was bedeutet das für die SPD?

Aus meiner Sicht ist das zentrale Defizit, dass wir nicht mehr allein von einem deutschen Arbeitsmarkt sprechen können. Wir leben in einer Europäischen Union von 450 Millionen Bürgern. Von daher sind gemeinsame Initiativen zur Beschäftigung und eine gemeinsame Wirtschaftspolitik in Angriff zu nehmen.

Was bedeutet das konkret für die 20 Prozent Arbeitslosen in Bremerhaven?

Wir haben in unseren Wahl- und Regierungsprogrammen in beiden Städten des Landes Bremen immer wieder Akzente auf neue zukunftsfeste Arbeitsplätze gerichtet, auf den Ausbau der Logistikbranche in Bremerhaven. Wir haben mit dem Alfred-Wegener-Institut einen Exellenzpunkt für die Forschung. Das alles sind Teilelemente einer langfristigen Beschäftigungsstrategie.

Und wie lange muss das Prekariat warten, bis es deren konkreten Wirkungen spürt?

Wenn wir die Konstellation heute mit der vor zwölf Monaten vergleichen, dann haben wir bereits einen spürbaren Rückgang einer unerträglich hohen Arbeitslosigkeit. Ich hüte mich, präzise Zahlen zu nennen. Die Lage hat uns beigebracht, dass das Dinge sind, die wir auf nationaler Ebene allein nicht wirksam verwirklichen können. Dennoch glaube ich, dass es kein Dauerzustand ist, sich in jene so genannte Unterschicht zurückzuziehen.

Die aktuellen Nachrichten aus Bremen vom Fall des bei seinem drogenabhängigen Vater aufgefunden toten Kind zeigen noch einmal die Hilflosigkeit vieler sozialer Institutionen, mit diesem Rückzug umzugehen.

Ich glaube, dass wir uns vor vorschnellen Verallgemeinerungen hüten müssen. Dies ist sicher ein Fall von persönlicher Fehleinschätzung und verzweifelter persönlicher Lage. Ich bin nicht bereit, das als typisch für jene 20 Prozent der Ostdeutschen und vier Prozent der Westdeutschen gelten zu lassen, auf die sich die Ebert-Studie bezieht.

Um auf die vorher erwähnten Versäumnisse Ihrer Partei zurückzukommen – welche Kurskorrekturen muss die SPD angehen?

Wir hatten uns 1998 mehr vorgenommen – seitdem sind wir in der Bildungspolitik bis zur Absicherung der sozialen Sicherungssysteme unterwegs. Auf keiner dieser Baustelle können wir uns mit dem heutigen zufrieden geben. Und ganz konkret gesprochen bestreite ich nicht, dass Hartz IV einige gravierende Konstruktionsfehler enthält wie das viel zu gering angesetzte Schonvermögen, das bei der Zahlung außen vor bleibt. Ganz entschieden wehre ich mich gegen weitere Kürzungsvorschläge, wie sie die Union immer wieder vorbringt. Das wird es mit uns nicht geben.