„Das Mitleid hinkt nach“

STAHLGETWITTER Am Sonntag wird im Literaturarchiv Marbach eine große Ausstellung über Ernst Jünger eröffnet. Ein Gespräch mit dem Kulturwissenschaftler Helmut Lethen über den tödlichen Karneval in Jüngers Kriegstagebüchern und langsame Prozesse der Abpanzerung

■ 71, der Fachmann für die Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 1994 erschien sein Klassiker „Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen“, 2006 „Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit“. Foto: Marcus Werres/IFK

INTERVIEW STEPHAN SCHLAK

taz: Herr Lethen, in Ihrem kulturwissenschaftlichem Klassiker „Verhaltenslehren der Kälte“ haben Sie beschrieben, wie Ernst Jünger sich zwischen den Kriegen im Milieu der Sachlichkeit mit dem kalten Blick gegen die Zumutungen der Moral und des Mitleids gepanzert hat. Nun taucht aus dem Archiv der junge Tagebuchschreiber aus dem Ersten Weltkrieg wieder auf. Müssen wir unser Bild vom heroischen Stroßtruppführer revidieren?

Helmut Lethen: Ich hatte bisher Jüngers These aus dem „Abenteuerlichen Herzen“ für richtig gehalten, das 19. Jahrhundert sei im Weltkrieg an der Flamme des 20. Jahrhunderts verbrannt. Die Tagebücher widerlegen es. Man erlebt den Apothekersohn aus dem Hannoverschen als einen Abenteurer mit extrem hoher motorischer Intelligenz, der mit dem Habitus und den Kulturen der Evidenz des 19. Jahrhunderts groß geworden ist.

Jünger probt den kalten Blick – im Angesicht des Schreckens. Am Vorabend des Weltkrieges war er noch in die Fremdenlegion nach Afrika ausgebüxt. Wie sehr sind die romantischen Energien und Leidenschaften im Tagebuch schon ausgekühlt?

Die oft berufene „Kälte“ seiner Beschreibungen stammt aus dem Archiv der Naturwissenschaften. Das lässt sich besonders gut an den Körperbildern seiner Notizen ablesen, die er mit der Unpersönlichkeit des Mediziners, mit der Gelassenheit des Pathologen wahrnehmen will. Überrascht hat mich auch, dass der Nervendiskurs der wilhelminischen Zeit so präsent ist und die Kolonialträume des Jungen noch nicht ausgeträumt sind. Nach dem Buch von Karl Heinz Bohrer über die „Ästhetik des Schreckens“ hatte ich erwartet, dass der Bilderschatz der Dekadenz Zugabe in den späteren Fassungen der „Stahlgewitter“ sein würde. Die ästhetische Lust an der Grausamkeit, das makabre Spiel – das ist in den Tagebüchern alles schon vorhanden.

Dabei verrutscht die Maske der Gleichgültigkeit immer wieder und gibt den Blick frei auf den jungen Leutnant, der sensibel auf das Entsetzen über den Krieg registriert.

Sollten wir die Abgründigkeit dieses Menschenbildes in unsere Anthropologie einbürgern?

Das Bild der gepanzerten Person hat sich noch nicht herausgebildet. Die klassizistisch geschlossene Kontur des Soldaten mit Stahlhelm ist ein Nachkriegsprodukt. Die Notizen wimmeln von grotesken Körperbildern mit ihren Öffnungen für Ausscheidungen, Sauforgien, Ausdünstungen und Durchfällen, einschließlich der „Sexualpathologie“ des Helden, für den ein „Bordell unter militärischer Leitung“ zu den Selbstverständlichkeiten des Soldatenlebens gehört. Der Tod ist der Nahrungskette inhärent. Ekel, eine Reaktion des Nähesinns, die später in den immer physikalischeren, immer metallischeren Gestalten in den sieben Fassungen der „Stahlgewitter“ ausgespart wird. In den Notizheften ist Ekel noch allgegenwärtig. Später wird Fernsinn regieren. In Jüngers Großessay über den Arbeiter schwitzt niemand mehr. Er ist geruchsfrei. Die Gestalt ist galvanisiert; ihr ist jede organische Substanz entzogen. Während Gestank noch eine durchdringende Wahrnehmung der Kriegsaufzeichnungen ist, wird er wie jede organische Ausdünstung in den späteren Kunstfassungen entfernt.

In Jüngers moralischem Nähesinn ist das Mitleid durchaus noch eingeschlossen. Denken Sie nur an den gefallenen englischen Soldaten Stoke – den Jünger mit einem Kreuz in seinem Tagebuch verewigt. Solche Episoden eines alten ritterlichen Kriegerethos blitzen immer wieder auf. Wird dadurch das Bild von Jünger als allzeit entschlossener Kampfmaschine verkleinert?

Ja, die Stoke-Episode geht zu Herzen. Aber sind nicht die Situationen besonders unerträglich, in denen Jünger mit der sportlichen Haltung des Fair Play den getöteten Feind betrachtet? Einen Offiziersrang sollte er schon haben. Reaktionsformen des christlichen Gentleman, die später die Aufzeichnungen des Zweiten Weltkriegs grundieren, sind spurenweise in der Beschreibung toter englischer Offiziere vorhanden. Es ist nur erstaunlich, wie blitzschnell diese Attitüde ausgeschaltet werden kann. Als ob ein Kippschalter betätigt würde und sich wieder ein freies Feld hemmungsloser Aggression öffnet, auf dem nicht nur der Feind in seiner Offensive, sondern auch die flüchtenden Soldaten dem Vernichtungswillen preisgegeben werden. Diese Haltung erinnert sehr an den von Norbert Elias beobachteten Typus der „satisfaktionsfähigen Gemeinschaft“ des Wilhelminischen Kaiserreichs. Der Junge hat sich diese Charaktermaske einverleibt: das Fasziniertsein von den notwendigen Grausamkeiten des Lebens; die Abwertung moralischer Einwände, die Ungeduld gegenüber langen Debatten; die Verächtlichmachung femininer Haltungen. Allerdings wird die in der Öffentlichkeit depotenzierte Frau von Jünger als Ruhestation für die Regeneration des Kämpfers gern in Anspruch genommen. Außerhalb der Kampfhandlungen fraternisiert er nach Leibeskräften.

Gibt es denn gar keine ideologischen Rahmungen in den Tagebüchern des Ersten Weltkrieges? Nation, Vaterland, Rasse?

Fast nicht. Es ist eine Raserei auf tödlichem Spielfeld. Und die Akteure wissen nicht, wozu.

Den Zweiten Weltkrieg verbringt Jünger zu einem großen Teil im Pariser Kommandostab. Auch hier versucht er, die Zeit im Medium des Tagebuchs zu begreifen. Die daraus entwachsenen „Strahlungen“ aus dem Jahr 1949 sind ein hoch literarisierter Text. Unter Vorhängen nimmt Jünger die Wirklichkeit wahr.

Ernst Jüngers Kriegstagebücher aus den Jahren 1914 bis 1918 wurden kürzlich erstmals in ihrer Originalform publiziert; Verlag Klett-Cotta, 656 Seiten, 32,95 Euro. Sie bilden den Hintergrund dieses Gesprächs. Bislang kannte man nur ihren, so Jünger selbst, „in Form gebrachten Inhalt“ aus dem berühmt-berüchtigten Erstling des Autors „In Stahlgewittern“. Die Frage, inwieweit Jünger sich im Zuge dieser Bearbeitungen vom mordlüsternen Krieger zum kühlen Soldaten stilisiert habe, beschäftigte zuletzt die Feuilletons. Unsere Besprechung der Kriegstagebücher erschien am 20. September.

Im Deutschen Literaturarchiv Marbach, und zwar im dortigen Literaturmuseum der Moderne, wird am Sonntag, 7. November die Ausstellung „Ernst Jünger. Arbeiter am Abgrund“ mit großem Tamtam eröffnet. Kulturstaatsminister Bernd Neumann und FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher halten Reden. Ein Großteil der 400 Exponate war bislang noch nicht öffentlich zugänglich. Kernstück der Ausstellung bilden über 280 Tagebücher und Manuskripte. Im Katalog findet sich eine längere Fassung des Gesprächs, das Stephan Schlak mit Helmut Lethen geführt hat.

Die Literaturwissenschaft hat sich an Ernst Jünger, der am 17. Februar 1998 im Alter von 102 Jahren starb, immer wieder abgearbeitet, oft mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu. Bezug genommen wird in dem Gespräch u. a. auf das Buch „Ästhetik des Schreckens“ des Merkur-Herausgebers Karl Heinz Bohrer sowie auf Klaus Theweleits Klassiker „Männerphantasien“.

Alles wird anders, als er zur Beobachtung vom Pariser Stab an die Ostfront geschickt wird. Gerüchte und Augenzeugen haben ihn schon in Paris darauf vorbereitet. Er ahnt, dass er im Kaukasus versagen wird. Am 6. März 1942 schreibt er, nachdem er erste Berichte von dem Massenmord gehört hat, in sein Tagebuch, dass er mit Ereignissen rechnen muss, die nur noch mit Beschreibungstechniken einer „Skala am absoluten Nullpunkt“ zu erfassen sind; denn die Kämpfe mündeten dort ins „Zoologische“. Als er aufgefordert wird, den Vollzug des Massenmords in Augenschein zu nehmen, zögert Jünger für eine Schrecksekunde. Bei der endgültigen Redaktion seiner Tagebucheintragungen hat er Mühe, seine Weigerung, Augenzeuge zu sein, zu begründen.

Jüngers Erschütterung sucht Halt in der Erinnerung an höfische Verhaltenslehren. Schon 1920 sah man Jünger in aller Frühe vor Dienstantritt in der Kaserne Wünsdorf bei Hannover im Handorakel des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián aus dem Jahre 1647 lesen – um sich für die Verfassung neuer Heeresdienstvorschriften in die richtige Schreibhaltung zu bringen. Jetzt, um die Jahreswende 1942/43, nachdem er die Uniform der Wehrmacht an der Ostfront zu hassen begonnen hat, sucht er wieder Halt in der Apodiktik der Verhaltenslehre und schreibt am 1. Januar 1943 in Apscheronskaja drei gute Vorsätze in sein Tagebuch. Der zweite lautet: „Immer ein Auge für die Unglücklichen. Dem Menschen ist die Neigung angeboren, das echte Unglück nicht wahrzunehmen, ja mehr als das: er wendet die Augen von ihm ab. Das Mitleid hinkt nach.“ Der letzte Satz fehlt in der Fassung von 1949.

Auch wenn Carl Schmitt über Jüngers „Strahlungen“ spöttisch anmerkte, der habe sich seine Tagebücher nach dem Modell eines Bildungsromans nachträglich zurechtfrisiert – ich konnte mich anhand der Originalnotizen in den uniformgroßen Notizbüchern im Marbacher Archiv davon überzeugen, dass die politisch gefährlichsten Passagen schon dort zu finden sind. Vielleicht sind aber auch die Tagebücher der Jahre 1939 bis 1947 Dokumente der Schizophrenie des christlichen Gentlemans, die Karl Löwith diagnostiziert hat.

Ernst Jünger, Martin Heidegger, Carl Schmitt und Gottfried Benn werden von außen oft verbunden: das rechte Quartett. Dabei schossen sie wild aufeinander und mit Vorliebe auf Jünger, der der Schuldkultur der bürgerlichen Gesellschaft zugeschlagen wurde. Das ist eine Linie, die sich von Heideggers Arbeiter- und Schmerz-Lektüren im „Dritten Reich“ bis zu Carl Schmitts Glossarium zieht. Ernst Jünger als „Strandgut des Wilhelminismus“?

Der Erste Weltkrieg war eine Raserei auf tödlichem Spielfeld. Und die Akteure wussten nicht, wozu

Einerseits haben die Bad Boys des Konservativismus oft genug den Verdacht geäußert, dass Ernst Jünger nur seine bürgerliche Empfindsamkeit maskiere, andererseits waren ihre eigenen Schriften in den Jahren 1927 bis 1935 durchtränkt von Erfahrungsbeständen und Imaginationen der Front- und Arbeitslandschaft, die sie eher in Jüngers Schriften kennengelernt als an der Front erfahren hatten. Jünger lieferte ihnen einen Imaginationsraum, den sie als Erfahrungsraum ausgeben konnten.

Nach Karl Heinz Bohrers Theorie müssten die Kriegstagebücher durch ihre unmittelbare soziale Bindung an die historische Zeit und Landschaft des Krieges an „Schrecken“ verlieren. Wie schätzen Sie die ästhetischen Arsenale der Tagebücher ein – auch im Vergleich zu den stärker literarisierten „Stahlgewittern“?

Als ich 1979 zusammen mit Heinz-Dieter Kittsteiner in dem Aufsatz unter dem Titel „Jetzt zieht Leutnant Jünger seinen Mantel aus“ Überlegungen zur Ästhetik des Schreckens von Karl Heinz Bohrer anstellte, stellte uns die Zusammenarbeit auf eine harte Probe der Freundschaft. Während mich das märchenhafte Phlegma, mit dem sich der Stoßtruppführer durch die Materialschlacht bewegt, faszinierte, während mich die, wie es in den „Stahlgewittern“ hieß, angespannte Wachsamkeit des Kriegers, „als ob irgendwo im Körper ununterbrochen eine elektrische Klingel ablief“, in Bann schlug, langweilte sich Kittsteiner über das endlose soldatische Palaver. Das von Lesern wie Klaus Mann beobachtete „Luziferische“ fesselte mich. Jünger als Satanas, fragte Kittsteiner, der wie ein Blitz aus dem Himmel Gefallene, der auch als Fürst der Finsternis immer ein „Lichtbringer“ in das anthropologische Rätsel der Kriegsgewalt sei? Ja, wenn es so wäre, könne er mein Fasziniertsein verstehen. Es sei aber nicht so. Die „Naivitäten“ verfielen dem Gelächter von Freund Kittsteiner. Es war weniger das Gelächter, das Klaus Theweleit in seinen „Männerphantasien“ angestimmt hatte. Den nackten Hintern der väterlichen Heroen enthüllt zu haben, bleibt Theweleits Kulturleistung ersten Ranges. Der Grund für Kittsteiners Amüsement war gelehrter Natur. Es entstammte seiner Entdeckung des untergründigen „romantischen Occasionalismus“, dem Schmitt und Jünger unbewusst verfallen waren. Vor allem aber war es Gelächter über die Subjektanmaßung, die der heroischen Weltanschauung zugrunde liegt, dass durch geschicktes Hantieren mit Handgranaten und Maschinengewehr die Richtung des Weltenlaufs bestimmt werden könnte: „Jünger irrt“, so kategorisch Kittsteiner 1979: Hinter dem „Kampf der Maschinen“ steckt nicht der heroische Mensch, sondern ein unverfügbarer anonymer Prozess, der hinter dem Rücken der Akteure unaufhaltsam abrollt. Ich hingegen schätzte es als Verdienst von Bohrer, auf die surrealistisch anmutenden Kunstgriffe des Grauens hingewiesen zu haben, mit denen Jünger den Effekt des Authentischen erzeugen konnte. Das Kaltstellen der moralischen Person durch ästhetische Mittel – Walter Benjamin wird das als Leistung der französischen Surrealisten preisen. Auf das Ergebnis unserer fröhlichen Mesalliance waren wir schließlich beide stolz.

Werden die Kriegstagebücher das Gespräch über Jünger abrüsten? Jüngers humanistische Rettung?

In den Notizheften ist der Ekel noch allgegenwärtig. Später wird bei Jünger der Fernsinn regieren

Viel tödlicher Karneval steckt in der gescheckten Schreibweise der Tagebücher. Wir werden Zeuge eines langsamen Prozesses der Abpanzerung. Noch ist er nicht Gefangener seiner Stilisierungsobsession, noch übt er das Kaltstellen der moralischen Person mit Mitteln von Diskursen des 19. Jahrhunderts. Wenn er im letzten Tagebuch, längst fest entschlossen zur Veröffentlichung der Tagebücher, schreibt, er habe unter dem Signum der „Objektivität“ neben Gipfeln heroischen Willens „Abgründe tierischster Erbärmlichkeit“ ausstellen wollen, so ist ihm das oft wider Willen gelungen. Darum sind diese Tagebücher eine Fundgrube für Anthropologen, die über die Natur des Menschen rätseln.

Können wir Ernst Jünger 2010 in die Zone der Empfindsamkeit entlassen?

Nein. Aber wir sollten die Abgründigkeit seines Menschenbilds in unsere Anthropologie einbürgern.