Eine arme Debatte

Wie Medien und Politik aus einem urplötzlich entdeckten Skandal ihren Nutzen ziehen wollen

Die Quelle für den jüngsten Aufreger? „Bild am Sonntag“, das Fachblattfür soziale Fragen

VON JENS KÖNIG

Die aktuelle Diskussion über die „neue Unterschicht“ verläuft als typisch deutsche Armutsdebatte: Sie reagiert lediglich auf Reizworte, skandalisiert oberflächlich einen lange bekannten Befund, operiert mit falschen Zahlen und wälzt sich als Erregungswelle über die betroffenen Menschen hinweg. Medien und Politiker tragen daran gleichermaßen Schuld. Das ist umso fataler, weil es sich hierbei nicht, wie so oft, um ein mediales Hirngespinst handelt, sondern um einen tatsächlichen gesellschaftlichen Skandal ersten Ranges: die beständig wachsende Armut und ihre Verfestigung in bestimmten sozialen Milieus.

Seit dem Wochenende wissen wir also, dass 6,5 Millionen Deutsche zur „neuen Unterschicht“ gehören. Die Quelle dieser Zahl ist das Fachblatt für soziale Fragen, Springers Bild am Sonntag. Die Zeitung beutete für ihre Aussage schamlos eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung aus.

In dieser repräsentativen Studie vom Juli 2006, die den Titel „Gesellschaft im Reformprozess“ trägt, hat die Ebert-Stiftung 3.021 Deutsche um Auskunft darüber gebeten, wie sie selbst ihre soziale Lage einschätzen. Ziel der Forscher war, aus diesen Selbstauskünften Schlussfolgerungen für die politischen Einstellungen der Deutschen zu ziehen. Zu diesem Zweck haben die Wissenschaftler die Bevölkerung nach einem eigenen Verfahren in neun politische Typen unterteilt und ihnen politische Einstellungen zugeordnet. Das Spektrum reicht von „Leistungsindividualisten“ (elf Prozent) bis hin zu „autoritätsorientierten Geringqualifizierten“ (sieben Prozent) und dem „abgehängten Prekariat“ (acht Prozent).

Die BamS hat, streng wissenschaftlich, versteht sich, das „abgehängte Prekariat“ einfach mit „neue Unterschicht“ übersetzt und acht Prozent zu „rund 6,5 Millionen Menschen“ hochgerechnet, fertig war der Skandal. Die Schlagzeile über zwei Seiten hinweg am 15. Oktober lautete: „Sechs Millionen Deutsche gehören zur neuen Unterschicht“. So lief das dann unhinterfragt über die Nachrichtenticker. Seitdem lernt das Land in unzähligen journalistischen Beiträgen, dass es ziemlich schlimm ist, zur Unterschicht zu gehören.

Dass „Unterschicht“ nur ein ziemlich ungefährer Begriff ist und niemand exakt zu sagen vermag, wie viele Menschen zu ihr gehören? Dass die Friedrich-Ebert-Stiftung überall als Quelle für die 6,5-Millionen-Unterschicht genannt wird, obwohl sie die „Unterschicht“ gar nicht untersucht hat, ja nicht einmal das Wort in ihrer Studie vorkommt? Dass die Untersuchung der Stiftung keine Sozial- und schon gar keine Armutsstudie ist, die auf Grundlage objektiver Kriterien sozioökonomische Daten erhebt? Alles geschenkt. Für viele Journalisten und Politiker kein Problem, Hauptsache, die Debatte schwillt an. „Unterschicht“ – dieses Reizwort erzeugt jenen Schauder, der es der Mitte der Gesellschaft leicht macht, sich als etwas Besseres zu fühlen. Und es kompensiert die Angst vor dem eigenen sozialen Abstieg.

Mal abgesehen davon, dass der CDU-Politiker Heiner Geißler bereits in den 70er-Jahren die „neue soziale Frage“ aufwarf und feststellte, dass die bundesdeutsche Gesellschaft „arm an Wissen über Armut“ sei, was im Prinzip auch heute noch gilt – es gibt seit vielen Jahren Untersuchungen, die das Problem der sich ausbreitenden Armut und Hoffnungslosigkeit in Deutschland exakter und anschaulicher beschreiben, als dies die Studie der Ebert-Stiftung tut. Sie sind für jeden Journalisten, Politiker und Bürger öffentlich zugänglich. Die Daten stammen unter anderem vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, von den Wohlfahrtsverbänden und vom Forscherteam um den Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer mit dessen Langzeitprojekt „Deutsche Zustände“.

Die größte Ignoranz von allen bringt jedoch die SPD auf. Sie nimmt nicht einmal die Zahlen ernst, die sie vor eineinhalb Jahren selbst veröffentlicht hat und die schon damals mindestens so alarmierend waren wie das, was in diesen Tagen überall geschrieben wird. Es darf daran erinnert werden, dass es ja die rot-grüne Regierung war, die eine nationale Armutsberichterstattung erst eingeführt hat. Im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2004 – wegen schlechten Gewissens der SPD erst im März 2005 veröffentlicht – ist eine wachsende Armut bilanziert: Bereits elf Millionen Deutsche leben demnach in Armut oder sind von Armut bedroht, Tendenz steigend. (Das DIW hat diese Zahlen vor kurzem auf das Jahr 2006 hochgerechnet und kam auf 14 Millionen; das entspricht einer Armutsquote von 17,3 Prozent.) Armut spielt sich also längst nicht mehr nur am Rand der Gesellschaft ab, sondern reicht bis in ihre Mitte hinein.

Analysiert wird im Armuts- und Reichtumsbericht auch die am meisten besorgniserregende Tendenz: die Verfestigung von Armut in bestimmten Milieus. Mehr als fünf Millionen Deutsche sind dauerhaft dem Risiko von Armut ausgesetzt. Die Folge: klassische Armutskarrieren. Besonders betroffen davon sind Arbeitslose, Alleinerziehende und Ausländer. Manche Forscher benutzen für diese Problemgruppen einen abwertenden Begriff: A-Bevölkerung. Wer will, kann das „Unterschicht“ nennen; in der politischen Arena ist dieser Kampfbegriff – ähnlich wie der von der „Leitkultur“ – jedoch verbrannt.

Die SPD versucht, aus dieser Tristesse Nutzen zu ziehen und sie gleichzeitig zu leugnen. SPD-Chef Kurt Beck ist ganz stolz darauf, dass er das Problem der neuen Armut angeblich als erster Politiker angesprochen hat, was in jeder Hinsicht lächerlich ist. Vizekanzler Franz Müntefering möchte das Wort „Unterschicht“ gar nicht erst in den Mund nehmen. Er bestreitet schlicht, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist. Und fast alle in der SPD wollen nicht wahrhaben, dass ihre eigene Politik das Problem der neuen Armut zwar nicht verursacht, aber doch verstärkt hat.

Ach ja, die Betroffenen? Schweigen.