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Archiv-Artikel

„Das sind Folgen von Verwahrlosung“

Rechtsextremismus-Experte Michael Kohlstruck: Rechten Tätern fehlt es an Vertrautheit mit zivilen Standards

taz: Herr Kohlstruck, die jüngste Statistik des Bundesinnenministeriums weist einen deutlichen Anstieg rechtsextremer Gewalttaten nach. Welche Erklärungen sehen Sie für diese Entwicklung?

Michael Kohlstruck: Wir müssen bei diesen Zahlen genau hinsehen. Wichtig ist, zu erkennen: Es gibt auf der einen Seite Taten mit klarer politischer Intention. Zum Beispiel, wenn junge Leute Imbisse anzünden, um deren ausländische Betreiber einzuschüchtern. Oft fehlt nach unseren Erkenntnissen aber diese klare politische Absicht. Ich würde hier eher von Extremismus im Sozialverhalten sprechen.

Was bedeutet das?

Die Täter weisen zwar diffuse rechtsextreme Einstellungen auf – aber vor allem auch große Defizite in der Vertrautheit mit zivilen Standards.

Überrascht Sie vor diesem Hintergrund der jüngste Anstieg der rechtsextremen Gewalt?

Nein, die Zahlen überraschen mich eigentlich nicht. Wir haben es hier mit den Folgen moralischer Verwahrlosung kombiniert mit mangelnden Zukunftsaussichten zu tun.

Sehen Sie auch einen Zusammenhang mit dem Aufstieg der NPD?

Indirekt sicher. Zwar besteht nur in ganz wenigen Fällen ein Auftrags- oder Anleitungsverhältnis zwischen NPD und Schlägern. Aber wir können von einem atmosphärischen Zusammenhang ausgehen: Durch den wachsenden Einfluss rechtsextremer Parteien können sich gewalttätige Cliquen aufgewertet fühlen. Und wenn man den Eindruck hat, Teil einer breiteren Bewegung zu sein, kann das die Hemmschwelle senken.

Welche Chancen sehen Sie, den Anstieg der Gewalt zu stoppen?

Zivilgesellschaftliche Gegnerschaft ist richtig und wichtig. Man kommt diesem Problem aber nicht mit einigen zeitlich befristeten zivilgesellschaftlichen Initiativen bei. Wir müssen auch das Bildungs- und Erziehungswesen verbessern.

Wo genau sehen Sie Handlungsbedarf?

Ich denke, wir müssen früher ansetzen – dafür sorgen, dass mehr junge Männer eine Sperre haben, jemanden zusammenzuschlagen. Dazu müssen wir schon bei Kleinkindern ansetzen, ihnen moralische Standards vermitteln. Wenn sie erst mal Teenager sind, ist es dazu meist schon zu spät.

INTERVIEW: ASTRID GEISLER