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Archiv-Artikel

Fortkommen als oberstes Gesetz

Die Anthologie „Hamburg – 69 Dichter und ihre Stadt“ von Olaf Irlenkäuser und Stephan Samtleben bietet ein vielschichtiges Panorama der Stadt und Seelenlandschaft. Heute Abend wird das Buch mit illustren Gästen vorgestellt

Do, 19. 10., 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38O. Irlenkäuser/S. Samtleben: Hamburg. 69 Dichter und ihre Stadt, 256 S., 19,95 Euro

„Man könnte meinen, es handle sich um zwei verschiedene Städte“, urteilt der spanische Schriftsteller Rafael Chirbes, das elegante Panorama der Alster mit dem „unermesslichen Gewirr“ der Hafenkulisse vergleichend. Der Hamburger Frank Schulz erklärt den Elbtunnel zum „Arschloch der Welt“ und kreiert die „Big Blue City“ am Binnensee. Zwischen derart markanten Polen entfaltet sich die literarische Lagebeschreibung, die Olaf Irlenkäuser und Stephan Samtleben in ihrer Anthologie „Hamburg – 69 Dichter und Ihre Stadt“ auf 256 Buchseiten erstellt haben. Es sei Absicht, „sowohl die große literarische Tradition … als auch die neue, lebendige Literaturszene darzustellen“, erklärt der ehemalige „Rotbuch“-Lektor Irlenkäuser. Co-Herausgeber ist der umfassend literarisch bewanderte Buchhändler Samtleben.

Ihr Band versammelt Prosa und Lyrik von gebürtigen Hanseaten, Zu und Durchgereisten. Chronologisch reicht das Spektrum von Friedrich Gottlieb Klopstock, Jahrgang 1724, bis zum „Machtclub“-Macher Sven Amtsberg, 34. Die erotische Dimension der Zahl 69 im Titel erschließt sich nicht unbedingt auf Anhieb, erklärt aber, warum es ein „Vor“ und ein „Nachspiel“ gibt.

Die Texte sind nach Stadtteilen geordnet. St. Pauli erkundet der Leser u. a. mit dem Hamburg-kritischen Heinrich Heine, der schlaflosen Fanny Müller und der Meisterin wahrer Tragödien, Marie-Luise Scherer. In der Innenstadt begegnen uns Hubert Fichtes Jäcki und Matthias Polityckis Broschkus. Regula Venske lädt zum frivolen „Singen und Steppen an der Alster“, in Barmbek kreuzt man die Wege von Ralph Giordano und Willi Bredel, und besucht den Ohlsdorfer Friedhof mit Samuel Beckett. Über das nördliche Elbufer – Revier von Rühmkorf, Lenz und Kronauer – geht es nach Harburg, mit Heinz Strunk und Hans Christian Andersen. Dies alles, um nur einige zu nennen.

Trotz zahlloser Strecken, die in diesem Band zurückgelegt werden – als eine Stadt des Müßiggangs erweist sich Hamburg nicht. Zielloses Umherschweifen, sich treiben lassen – solche Motive haben in dieser merkantil geprägten Topografie keinen Platz: Fortkommen ist oberstes Gesetz. Zu entkommen war dagegen für einige der Literaten lebensrettend: Für den in Reinbek geborenen Georges-Arthur Goldschmidt ebenso wie für den im Dritten Reich emigrierten Joachim Maass. Das große Gefühl, die große Oper wird nun mal nicht an Elbe und Alster gespielt. Vielleicht trägt auch Hamburgs „grausames Klima“ (Rafael Chirbes) dazu bei, dass Autoren hier stets eins behalten: einen kühlen Kopf.

Bei den ausgewählten 69 Dichtern geht es gesittet zu – Erotik ist selten mehr als eine Chiffre wie im Buchtitel. Dafür bestechen viele Texte durch genaue, exzellent verarbeitete Beobachtung. Hans Erich Nossack, Ulla Hahn und Wolfgang Schömel seien hier u. a. genannt. Das Verhältnis der Autoren zur Region ist zuweilen distanziert. „Hamburg ist eine Stadt der freundlichen Langeweile“, urteilt Dirk Kurbjuweit. „Diese verdammten Hamburger! Nie weiß man, was sie wirklich meinen“, schimpft André Kaminski. Wenn es etwas gibt, das viele Texte verbindet, dann ist es das Wasser. Es strömt und rauscht, plätschert und rinnt durch die Zeilen. Und es reflektiert: Willi Winkler schreibt über Harry Rowohlt, Rowohlt über seinen Freund Rauschenbach und Regula Venske lässt den Herausgeber durch die Szene grooven. “Die Texte sollen Bilder entfalten“, wünscht jener (wort)gewandte Stephan Samtleben – und das tun sie. Diese Anthologie bietet ein vielschichtiges Panorama von Hamburgs Stadt und Seelenlandschaft, in der es viel zu entdecken gibt. Heute Abend stellen die Herausgeber ihr Buch mit zahlreichen illustren Gästen vor. MECHTHILD BAUSCH