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Archiv-Artikel

„Hase und Igel: Immer ist schon jemand da“

Weil sie auf der Bildungsleiter nach unten durchgereicht werden, drohen Hauptschüler zu resignieren, sagt die Bildungsexpertin Tilly Lex

taz: Frau Lex, warum ist es ein Problem, wenn sich immer mehr Gymnasiasten eine Lehrstelle suchen?

Tilly Lex: Weil Abiturienten zunächst die Realschüler aus deren traditionellen Ausbildungsberufen zum Beispiel im Dienstleistungssektor verdrängen. Die Realschüler wiederum drücken die Hauptschüler aus den handwerklichen Ausbildungen in sogenannte Übergangsmaßnahmen. Hier liegt das Problem, denn wir haben viele Hauptschüler, die inzwischen seit zwei oder gar drei Jahren immer wieder berufsvorbereitende Maßnahmen besuchen, also beispielsweise ein schulisches Berufsvorbereitungsjahr oder Praktika.

Warum eigentlich, Hauptschüler gelten in der öffentlichen Diskussion als uninteressiert …

… diese Vorurteile sind völliger Unsinn. Hauptschüler sind ähnlich motiviert wie Abiturienten und Realschüler. Sie wissen, dass sie eine gute Ausbildung brauchen. Darum versuchen auch sie, sich ständig weiterzuqualifizieren. Sie hängen aber in einer Warteschleife der berufsvorbereitenden Maßnahmen fest. Viele schreiben 50 und mehr Bewerbungen, obwohl ihre Berufsvorstellungen keinesfalls unrealistisch sind. Die wollen nicht Banker werden, sondern Frisör. Sie bewerben sich auf die Berufe, die für Hauptschüler vorgesehen sind. Und dennoch ist das wie beim Rennen von Hase und Igel: Es ist immer schon jemand da.

Wie wirkt sich das auf die Hauptschüler aus?

Sie wissen, dass sie ganz am Ende der Verdrängungskette bei der Ausbildung stehen. Auffällig viele leiden deshalb unter gesundheitlichen Belastungen, Schlafproblemen und dergleichen. Es gibt eine Gruppe von etwa 9 Prozent der Hauptschüler, die uns Sorgen machen, weil die gar nicht mehr im System der berufsvorbereitenden Maßnahmen unterkommen. Die fangen früher oder später an zu resignieren. Sie sehen kaum noch einen Ausweg aus ihrer Lage. Dann gibt es die Gruppe von Hauptschülern, die sich zwar immer wieder bewerben, aber schon seit ein oder zwei Jahren im Karussell der Praktika und berufsvorbereitenden Maßnahmen festsitzen. Wenn nichts passiert, wird es problematisch.

Ist das Ausbildungssystem damit aktiv an der Produktion einer resignierten Unterschicht beteiligt?

Natürlich hängen soziale Herkunft und soziale Zukunft noch immer eng zusammen, das ist das eine Problem. Hauptschüler kommen oft aus sozial schwachen Familien und steigen demzufolge im Ausbildungssystem auch schwer auf. Das andere ist: Die beruflichen Vorbildungsmaßnahmen sind nicht an sich schlecht. Sie halten Chancen bereit, aber viele können die nicht mehr nutzen. Ohne den Begriff „Unterschicht“ zu benutzen, die Gefahr wächst, dass viele der Hauptschüler nicht mehr in die Arbeitsgesellschaft integriert werden können. Und dass das bei dem hohen Stellenwert von Arbeit nichts Positives bedeutet, dürfte klar sein.

INTERVIEW: DANIEL SCHULZ