: Das Unbehagen der Körper
TANZ Sein Tanztheater erzählt vom Unbewussten und Unausgedrückten in der Gesellschaft: Alain Platels „Out of Context – For Pina“ gilt als Tanzstück des Jahres 2010
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Was ist das denn? Die fünf Männer und vier Frauen, die eben ihre erstaunlich athletischen Körper in rote Wolldecken hüllten, beschnuppern sich, reiben Nase und Wange am Hals eines anderen oder begegnen sich in Augenhöhe mit den Fingerspitzen. Fußsohlen wischen über den Boden, wie ein ungeduldig scharrender Huf. Ein Grummeln ist zu hören, ein tierisches Schnaufen. Spielen die jetzt Pferde?
Ja, vielleicht. Nein, doch nicht, dafür ist zu schüchtern, was passiert. Vorsichtig und langsam schieben sich die Schultern der nur Unterwäsche Tragenden langsam aus den Decken, es entstehen Büsten von klassischer Schönheit. Wie Modelle in einem Bildhaueratelier wirken die Körper mit einem Mal. Eine sanfte Klaviermusik schiebt sich über die animalischen Laute. Dazu passt etwas später eine Szene zwischen zweien, die sich ein Gefecht der Blicke liefern, verlangend und verweigernd, wie in einem Stummfilm. Aber vor ihnen ist ein anderes Paar an den Bühnenrand getorkelt, auf dünnen staksigen Beinen, dem Sturz immer sehr nahe; man glaubt zu fühlen, wie dünn die Haut über ihren Knochen ist und wie sich die Welt für sie wie ein Parcours aus Hindernissen anfühlt.
„Out of Context – For Pina“ heißt dieses höchst eigenwillige Stück von Alain Platel; aber eigentlich fließt es über von Kontexten, nur dass sich keiner lange halten lässt, dass sie zu schnell wieder verloren gehen. Es ist von ungeheurer Emotionalität, aber ohne dass sich diese, wie sonst in den Arbeiten des flämischen Choreografen, mit Geschichten verbinden und sozial verorten ließe. Im Januar 2010 war die Uraufführung in Brüssel, viele Gastspiele folgten, dieses Wochenende in Berlin. Von der Zeitschrift Tanz wurde es im August in einer Kritikerumfrage zum Stück des Jahres 2010 gewählt. Es liefere wohl eine Zustandsbeschreibung des Tanztheaters nach dem Tod von Pina Bausch, schrieb dazu in einer Begründung Arnd Wesemann, Redakteur der Zeitschrift. „Dieser merkwürdig extreme und provokative Zustand des Tanztheaters“, fuhr er fort, „ist wohl nicht recht bei Trost.“
Der Zustand des Menschen
Ich glaube aber, dass man dem Stück und seinem Autor Unrecht tut, wenn man es solcherart als eine gegen die ganze Zunft gerichtete Spitze liest. Sich über andere zu erheben, ist eigentlich auch überhaupt nicht der Stil von Alain Platel. Und auch von der Selbstreferenzialität, die das Tanztheater in der Hand einiger französischer und deutscher Choreografen auszeichnet, hat er sich immer ferngehalten. Der Zustand des Menschen interessiert ihn viel mehr als der der Kunst. Und diesen sieht er unter der Fuchtel von Ängsten und Sehnsüchten, die er nur an wenigen Orten zeigen darf, etwa in der Popmusik.
Man weiß von Platel, seit mehr als 20 Jahren im Tanztheatergeschäft, dass er Heilpädagoge war und mit Kindern arbeitete, bevor er Regisseur und Choreograf wurde. Man hat das immer wieder erinnert, weil er nicht nur Krankheitsbilder des Körpers in seiner Arbeit einbezieht, sondern mit seinen Stücken die Empathie wieder zu einem ethischen Maßstab der Ästhetik wurde. Auch in „Out of Context“ erinnern viele der körperlichen Spannungen, die angespannten, sich durch die Haut abzeichnenden Sehnen, die verdrehten Gelenke, die gekrümmten Wirbelsäulen an hysterische Zustände des Außer-sich-Seins. Aber ganz nah daneben liegen Szenen, in denen die Hilflosigkeit der Körper an das Beginnertum von Kleinkindern erinnert, die gerade mal den Kopf über die Decke hochgestemmt bekommen und mit enormer mimischer Ausdruckskraft, was sie sehen und was sie fühlen, außen und im Körperinneren, widerspiegeln. Manchmal sind gar nur Körperteile an diesem expressiven Spiel beteiligt; Schulterblätter, die von tierischen Lauten begleitet einen wilden Tanz aufführen, oder der aufgeblähte Bauch eines Mannes, den er verträumt wie eine Schwangere streicht. Das ist im Übrigen eine der vielen das Publikum ausgesprochen heiter stimmenden Szenen.
Es geht nicht, wie vorgeschlagen wurde, um die Ausdrucksnot von Psychiatrisierten in diesem Stück, sondern eher um die Ausdrucksnot von jedermann, dem nur ein eingeschränktes Repertoire zur Verfügung steht. Was sich nicht artikulieren lässt, rumort. Vielleicht hätte man es einmal das Unterdrückte oder Unbewusste genannt; jetzt scheint es viel eher eine Grauzone von Unbehagen in der Gesellschaft, für die es keinen Begriff und keinen Markt, keine Therapie und keine Dienstleistung gibt.
Das Bloße und das Nackte
In einem großartigen Mittelteil des Stücks wird zu Discobeats getanzt und gepost, Songzeilen zitiert, Lust und Sexiness ausgestellt, nicht affektiert, aber unglaublich komisch und grotesk. Vor allem an den männlichen Tänzern, die etwas von den überdefinierten Muskeln der Body-Builder haben, wirken die Posen wie ein läppisches Fähnchen, das dennoch mit großer Begeisterung geschwenkt wird. Nicht nur, weil man nichts anderes hat, sondern auch, weil es alle erkennen. Andere Codes hingegen stellt Platel seinen Protagonisten nicht zur Verfügung, auch deshalb wirken sie so aus allen Kontexten gefallen.
In vielen seiner Stücke hat Platel mit Orchestern auf der Bühne gearbeitet. Dieser Produktion fehlte dazu das Geld, die kargen Sounds aus dem Off wirken ungewohnt spartanisch. Und doch sehr passend zu der Körpersprache des Bloßen und Nackten und der Suche nach Trost.