: Erlaubt ist, was nicht stört
FAHRRADRECHT Ohne Helm und ohne Ahnung – die meisten Radfahrer kennen ihre Rechte und Pflichten nicht. Wir laden ein zur Radtour durch das Verkehrsrecht mit dem Kieler Rechtsanwalt Dietmar Kettler
VON JOHANN LAUX
Noch bevor die Tour losgehen kann, beschleichen mich zu Hause erste Zweifel: Ich habe keinen Helm. Anruf bei Dietmar Kettler, einem Rechtsanwalt aus Kiel, der sich auskennt – er hat ein Buch übers Fahrradrecht geschrieben:
Gibt es eine Helmpflicht?
„Nein“, sagt Kettler, „in Deutschland gibt es keine Pflicht, einen Helm zu tragen.“ Bin ich dann ohne Helm aber für Verletzungen am Kopf selbst verantwortlich? Auch Versicherungen interessieren sich brennend für solche Fragen. „Bislang hat die Rechtsprechung das abgelehnt“, sagt Kettler. Doch nun gab das Oberlandesgericht Schleswig-Holstein im letzten Sommer einer unbehelmten Radfahrerin eine Mitschuld an ihren Kopfverletzungen, die sie sich beim Zusammenstoß mit einer plötzlich aufgeschlagenen Autotür zugezogen hatte (Urteil vom 5. Juni 2013; Az. 7 U 11/12). Man könne, so die Richter, davon ausgehen, dass „ein verständiger Mensch“ beim Radfahren einen Helm tragen werde. „Ein verständiger Mensch tut genau das nicht“, kommentiert Kettler, „denn 95 Prozent der Radfahrer in Deutschland tragen keinen Helm.“ Gut möglich, dass der Bundesgerichtshof die Entscheidung noch kippt.
Wann ist ein Fahrrad verkehrssicher?
Als nächstes vergleiche ich mein Rad mit den Vorstellungen des Bußgeldkatalogs. Bei mir funktioniert nur eine Bremse, zwei sind Pflicht: Macht 15 Euro Strafe. „Die beliebten Fixies, bei denen manche nur eine Bremse oder gar keine haben, werden mehr und mehr von der Polizei ausgebremst“, berichtet Kettler. Mir fehlen auch noch Reflektoren und eine „helltönende Glocke“. „Eine Hupe genügt nicht“, sagt Kettler. Kostet 15 Euro Bußgeld.
Brauche ich einen Dynamo?
Meine Rennrad-Reifen sind so schmal, dass ich an ihnen keinen Strom erzeugen mag. Aber zum Glück ist die Energiewende bei Fahrrädern schon geschafft, fast alle meiner Bekannten benutzen Steckleuchten. Aber sind die auch erlaubt? Die gute Nachricht zuerst: Seit dem letzten Jahr braucht man in Deutschland keinen Dynamo mehr, auch akku- oder batteriebetriebene Lichter sind zulässig. Was früher nur für Rennräder unter 11 Kilogramm galt, ist jetzt für alle erlaubt. Die schlechte Nachricht: Die Vorschrift verlangt, dass die Leuchten am Rad „fest angebracht“ sind. Genau das sind die handelsüblichen Stecklichter aber nicht. Der in Bremen gegründete Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) hält die Neuregelung daher für praxisfern. Ohne Licht am Rad: 20 bis 35 Euro.
Muss ich den Radweg benutzen?
Fahren wir endlich los, raus in den Hamburger Stadtverkehr. Erste Frage: Muss ich den Radweg benutzen? Für alle Autofahrer, die es immer noch nicht glauben können: Radfahrer sollen auf die Straße. Und zwar auch dann, wenn es einen Radweg gibt. Allein wenn die Fahrbahn als zu gefährlich für Radfahrer angesehen wird, schreibt ein blaues Straßenschild die Nutzung des Radwegs vor. „Das ist schon seit 1997 so“, erklärt mir Anwalt Kettler. Hier im Norden seien die blauen Schilder eher selten. Darf ich denn auch den linken Radweg benutzen? „Nein“, sagt Kettler, „der linke Radweg müsste ausdrücklich durch ein Straßenschild freigegeben worden sein.“ Bußgeld: Mindestens zehn Euro.
Darf ich rechts an der Autoschlange vorbei?
Also bleibe ich auf der Straße. Im Stop-and-go des Feierabendverkehrs bin ich schneller als alle Autos. Aber darf ich überhaupt rechts an der Autoschlange vorbeirollen? „Wenn genügend Platz ist, dann ja“, sagt Kettler. In § 5, Absatz 8 der Straßenverkehrsordnung heißt es: „Ist ausreichender Raum vorhanden, dürfen Rad Fahrende die Fahrzeuge, die auf dem rechten Fahrstreifen warten, mit mäßiger Geschwindigkeit und besonderer Vorsicht rechts überholen.“ Wie viel „ausreichend“ ist, kann niemand sagen. Doch der Mindestabstand von 1,50 bis zwei Metern, den Autofahrer beim Überholen einhalten müssen, gilt für Radfahrer nicht. Aber Achtung: Das Manöver ist nicht ungefährlich. Auf keinen Fall neben den Autos stehen bleiben – sonst bleibt man für Rechtsabbieger unsichtbar.
Dürfen Radfahrer nebeneinander fahren?
Auch hier kommt es auf die Umstände an. Grundsätzlich gilt: Solange niemand behindert wird, darf nebeneinander gefahren werden, ansonsten drohen 20 bis 30 Euro Bußgeld. Etwas anderes sind ganze Gruppen mit mindestens 16 Personen, die im Verband auch nebeneinander fahren dürfen. Die Critical-Mass-Bewegung nutzt diese Regel zum Beispiel aus, um mit ihren Massenfahrten auf die Probleme von Radlern im Straßenverkehr aufmerksam zu machen. Auch Radsport-Gruppen profitieren davon.
Darf ich Musik hören?
Wenn mir das Radeln langweilig wird, will ich mir Musik anmachen. Geht das? Musikhören ist erlaubt, es kommt allein auf die Lautstärke an. Hupen, Klingeln und Tatütata dürfen nicht übertönt werden. „Es kann schon sein, dass ein Polizist kommt und sagt ‚darf ich mal?‘ und die Kopfhörer nimmt, um die Lautstärke zu überprüfen“, sagt Kettler. Messungen hätten ergeben, dass selbst lautere Musik über Stöpseln in den Ohren nicht mehr Geräusche absorbiere, als die geschlossenen Fenster eines Autos. Trotz einiger juristischer Zweifel spielt die Musikbeschallung in der Praxis keine Rolle: Das letzte Gerichtsurteil stammt aus dem Zeitalter des Walkmans.
Darf ich Alkohol trinken?
Genug geradelt, ich komme zielsicher vor meiner Lieblingskneipe zu stehen. Was jetzt, ein echtes Bier oder doch nur ein Radler? Zwar gelten nicht dieselben Alkohol-Grenzen wie beim Autofahren, aber trotzdem kann man auch auf dem Rad den Führerschein verlieren. Polizisten, erklärt mir Kettler, dürfen den Führerschein nicht gleich vor Ort einkassieren. Erfährt die Behörde aber anschließend von der Trunkenheitsfahrt, dann kann sie die berüchtigte Medizinisch-Psychologische Untersuchung – den „Idiotentest“ – anordnen. „Ab 1,6 Promille sind die Behörden da recht konsequent“, sagt Kettler.
Wie muss ich mein Fahrrad abschließen?
Weil ich keine Limo im Bier mag, lasse ich später das Rad lieber stehen. Aber wie schließe ich es so sicher ab, dass meine Versicherung bei Diebstahl zahlt? Dies steht nicht im Gesetz, sondern allein im Kleingedruckten meiner Versicherungs-Police. Manche Versicherer verlangen, dass das Rad nachts eingeschlossen ist, tagsüber muss es an-, statt einfach nur abgeschlossen sein. Auch die Sicherheitsklasse des Schlosses kann relevant sein.
Darf ich in der Natur frei herumfahren?
Und was ist abseits der Straßen der Stadt, in der freien Natur? Gilt die Straßenverkehrsordnung auch für mein Mountainbike im Wald? „Ob und wie Fahrradfahrer den Wald nutzen dürfen, ist Sache der Bundesländer“, sagt Kettler. Jedes Land hat seine eigenen Regelungen, manche Waldwege sind inzwischen von der Nutzung durch Radfahrer ausgenommen.
Zum Schluss der Tour kann ich mir zwei Fragen an Kettler nicht verkneifen. Obwohl er bei seinen Antworten lacht, muss er mich enttäuschen. Nein, ich darf niemanden hinten auf dem Gepäckträger mitnehmen. Und auch freihändig fahren ist nicht erlaubt. Gute Fahrt!
Dietmar Kettler: Recht für Radfahrer, 3. Auflage, Rhombos-Verlag Berlin, 272 S., 19,80 Euro