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Archiv-Artikel

Das Motown der Hispanics

Aus den New Yorker Barrios um die Welt: eine kleine Geschichte der Plattenfirma Fania Records, die Ende der Sechziger die Salsa erfand, in den Siebzigern weltweit die Musik der Hispanics dominierte und nun ihren Backkatalog wiederveröffentlicht

Der Geist des Fania-Sounds lebt weiter – weniger auf den Tanzböden der Salsotecas als im Reggaeton, dem Clubsound von Cali bis New York

VON CHRISTOPH TWICKEL

„Ich fühle mich ganz schön alt für das hier“, sagt Ray Barretto ins Mikrofon. Er wirkt in der Tat etwas verloren: ein freundlicher Rentner hinter drei silbernen Conga-Drums, umgeben von jungen Musikern auf einer Freilichtbühne vor einem Parkplatz im Osten von Caracas. Es ist eine schwüle Nacht im November 2005, vor der Bühne bewegen sich tausende von Tänzern aller Altersstufen. Stolze 35 Dollar haben sie gezahlt, um in der venezolanischen Hauptstadt auf den Sound von damals abzugehen. Barretto war Ende der Sechziger zum letzten Mal in Caracas. Doch seine alten Hits „Quitate la Máscara“ oder „Guararé“ plärren bis heute von den CD-Ständen der Straßenverkäufer. „Alte Salsa“, oder auch „Salsa aus der Fania-Zeit“ sagen die Leute hier dazu.

Die wenigsten wissen, dass der Sound von Fania Records, deren Platten während der Siebziger Lateinamerika überschwemmten, im New York der Sechziger entstanden ist. 1964 hatten der Bandleader Johnny Pacheco und der Rechtsanwalt Jerry Masucci das Label gegründet. Dank aggressiver Promotion – Masucci kaufte von den Radiostationen Sendezeit – hatte Fania ein paar Jahre später fast alle anderen Latin-Labels der Stadt geschluckt. Die Fania-Orquestas spielten kubanischen Guaguanco und Son, puerto-ricanische Bomba und Plena, kolumbianische Cumbia und versetzten das Ganze mit Soul, Jazz und afrikanischen Rhythmen. Der Begriff „Salsa“, der sich Anfang der Siebziger für diese Melange durchsetzte, war zunächst einfach eine Marketing-Idee von Fania. Doch er traf den Nerv der zweiten und dritten Generation der lateinamerikanischen Migrantinnen und Migranten, die in den Backsteinschluchten von Spanish Harlem, Brooklyn und der Bronx nach einer kulturellen Identität suchten. Die Fania-Stars beschworen afrokaribische Spiritualität und Tradition sowie das Leben in den „Barrios“, den urbanen Ghettos, und fanden damit nicht nur unter den Latinos ihr Publikum: Zu den Konzerten kamen Afroamerikaner genauso wie Italiener, und der Pianist Larry Harlow – einer der bekanntesten Fania-Acts – wurde von seinen Mitmusikern „der wunderbare Jude“ getauft.

Salsa war die erste Popkultur, die den gesamten amerikanischen Kontinent eroberte. Von Mexiko-Stadt bis Barranquilla fuhren Kids auf den roughen Sound ab. Die übersteuerte Posaune von Willie Colón, die Conga-Gewitter von Ray Barretto, die dissonanten Piano-Kaskaden von Eddie Palmieri: Das war etwas anderes als der Chachachá-Kitsch, den die nationalen Bigbands spielten, jene Salonmusik, „die bloß den Maßstäben der Bourgeoisie und ihrer Gewöhnlichkeit entspricht“, wie der kolumbianische Schriftsteller Andrés Caecida 1969 schrieb. „Es kann nicht um Zeilen wie ‚Mein Los in diesem Leben ist es, zu leiden‘ gehen“, notierte Caecida nach einem Auftritt des New Yorkers Ricardo Ray in Cali. „Es muss um Zeilen gehen wie ‚Pass auf, denn sie beobachten dich! Es lebe der afrokubanische Spirit! Es lebe das freie Puerto Rico! Wir brauchen Ricardo Ray!‘“

Die Großkonzerte der Fania All-Stars waren das Woodstock des afrokaribischen Kulturkreises. Selten waren die Texte explizit politisch, trotzdem war die frühe Salsa der Sound einer aufbegehrenden Generation, die sich an der Black-Power-Bewegung und der Vietnam-Proteste orientierte. Als Eddie Palmieri und seine Band Harlem River Drive 1971 im Gefängnis von Sing Sing auftraten, eröffnete der Spoken-Word-Dichter Felipe Luciano das Konzert mit seinem Poem „Jibaro / My Pretty Nigger“. „Jibaro“ ist ein puerto-ricanischer Ausdruck für „Bauer“ und ein Synonym für das lateinamerikanische Landei, das sich mit Tagelöhner-Jobs durch den urbanen Moloch schlägt.

In jener Novembernacht 2005 in Caracas holt Ray Barrettos Sänger Adalberto Santiago – auch er ein weißhaariger Rentner mit Lederweste über der Plauze – den Ausdruck wieder hervor. „Ich komm vom Land“ singt er („Jíbaro soy“) und weiß wahrscheinlich nicht, dass Jíbaro im venezolanischen Straßenslang „Drogendealer“ bedeutet. Die Verhältnisse haben sich geändert. Die Rebellen von damals haben sich – wenn sie nicht an den Folgen ihres Drogenkonsums gestorben sind – aufs Altenteil zurückgezogen, nicht selten verbittert, weil sie außer dem Handgeld, das ihnen Fania-Boss Jerry Masucci nach den Studiosessions gegeben hat, nie wieder Tantiemen gesehen haben. Einige wenige ziehen ab und an als nostalgischer Wanderzirkus durch die Lande. International bekannt wurden nur Willie Colon und der aus Panama emigrierte Sänger Ruben Blades.

1978 verwursteten sie auf dem Album „Siembra“ Salsa, Disco und soziale Themen und landeten den einzigen Welterfolg von Fania Records. Blades besang ironisch den Lebensstil lateinamerikanischer Rich kids („Plastico“) und schuf mit „Pedro Navaja“ ein karibisches Pendant zu Mackie Messer. Wie das mit den kulturellen Missverständnissen so ist: Seit „Siembra“ gilt Salsa vor allem in Europa nicht als urbane Folklore, sondern als politisch korrekte Multikulti-Musik, die irgendwie aus Lateinamerika kommt. In den Achtzigern wurde sie zum bevorzugten Beschallungsmittel für Drittwelt-Solipartys.

Womöglich hat gar der Ausdruck „Abzappeln“, den auch diese Zeitung eine Weile als Kategorie für Partytermine nutzte, etwas mit dem Achtziger-Salsa-Boom zu tun – beziehungsweise mit dem Versuch des deutschen Publikums, dem in dieser Musik vermuteten Freiheitsdrang körperlich Ausdruck zu verleihen. Heute ist aus Salsa längst ein weltweites mittelständisches Pärchenhobby geworden, gelehrt in Tanzschulen von Tokio bis Malmö. Und auch in Deutschland hat das alternative Abzappeln die fällige Professionalisierung erfahren. Seit den Neunzigern dominiert die „Salsa Romántica“ die Hitparaden, vorgetragen von smarten Boys, die monogamen Beziehungen huldigen.

Der Geist des Fania-Sounds lebt weiter – allerdings weniger auf den Tanzböden der Salsotecas als im Reggaeton, dem nach wie vor heißen neuen Clubsound von Cali bis New York. Dass der Alltag prekär ist, dass es im Leben wie auf der Bühne um Improvisation geht, dass man sich gegen eine feindliche, urbane Umwelt seiner lateinamerikanischen, meist puerto-ricanischen Identität versichert: All das teilt die Reggaeton-Kultur mit dem Barrio-Groove von einst. Reggaeton-Star Tego Calderon preist den verstorbenen Salsa-Gott Ismael Rivera als Vorbild. Sein Kollege Julio Voltio lud für sein Debütalbum die legendäre nuyorquinischen Formation Sonora Ponceña ins Studio. Überall tauchen in Reggaeton-Tracks Zitate aus alten Fania-Hits auf.

Seit diesem Sommer können die Produzenten sogar ganz legal Samples lizensieren. Denn Fania, das seit den Neunzigern ein scheintotes Dasein fristete, hat einen neuen Besitzer. Der Musikkonzern V2 kaufte über sein Sublabel Emusica aus Miami im vergangenen Jahr den gesamten Backkatalog auf. In dem verwaisten New Yorker Büro entdeckte man einen Großteil der alten Masterbänder. Die Überraschung war groß, denn seit Jahren ging das Gerücht, dass die Tapes in einem Lagerhaus verbrannt oder auf dem Sperrmüll gelandet seien. Die klassischen Alben, die bisher meist als von als LPs überspielte Raubkopien kursierten, kommen neu gemastert nach und nach wieder heraus. Doch nicht nur die: Rund 2.000 Veröffentlichungen von Fania und seinen Sublabels Cotique, Tico, Vaya, Alegre oder Inca warten auf ihre Neuveröffentlichung. Ein bunter Strauß zu Unrecht vergessener Genres kann neu entdeckt werden: Der Latin-Boogaloo, Partysound der Sechziger, die Afro-Funk-Experimente von Mongo Santamaría oder Cortijo, die cheesy Disco-Salsa der späten Siebziger, die Pachanga, der Shingaling, der Jala-Jala, der Mozambique und andere verwunschene Modetänze, mit denen die Orquestas seinerzeit gegeneinander antraten. Auch das reichhaltige Werk von Ray Barretto, der 1963 mit „El Watusi“ den ersten Latin-Hit in den Billboard-Charts landete und der sich später als „Mr. Hard Hands“ vermarktete, ist wieder verfügbar. Leider kann der alte Ray die Wiedergeburt von Fania Records nicht mehr genießen. Am 17. Februar diesen Jahres starb der Perkussionist 76-jährig in einem Krankenhaus in New Jersey.