Im Zeitalter der neuen Schutzwälle

An allen Ecken der Welt werden wieder verstärkt Bollwerke errichtet. Mit diesen neuen Wällen, Zäunen oder Überwachungssystemen wollen sich manche Staaten von einer zunehmend bedrohlichen Umgebung abschotten – das eigentliche Problem lösen sie nicht. Über die Renaissance der Mauer

von MARIUS MEYER

Jetzt baut auch Saudi-Arabien an einer Mauer. Sie wird zwar nur zum Teil aus Beton bestehen und wie eine Mauer im engeren Sinne aussehen, soll aber so unüberwindlich sein wie die großen Bollwerke der Menschheitsgeschichte.

Die Anlage entsteht an der Grenze zum Irak. Es sollen zwei hohe Zäune gebaut werden, an deren Kopf und Fuß Stacheldraht das Überklettern verhindert. Wer dies dennoch schafft, gelangt an ein Gestell, das komplett aus Stacheldraht besteht, dahinter befinden sich Bewegungssensoren im Boden, die einen lautlosen Alarm auslösen. Alle 90 Meter erhebt sich ein Wachturm über die Szenerie, auf dessen Dach sich ein Landeplatz für Helikopter befindet, sodass man Festgenommene schnell aus- und Unterstützung für die Grenzschutzgruppen einfliegen kann. UV-Sensoren überwachen die Grenze, eine Software zur Gesichtserkennung erkennt schon vor dem Zugriff der Grenzschützer, wer unbefugt das saudische Königreich betreten oder verlassen will. In Richtung Irak ergänzt eine meterhohe Sandböschung die Mauer.

Saudi-Arabien ist nicht das einzige Land, das solch eine Anlage baut. Mauern erleben geradezu eine Renaissance. In Israel wird gebaut, in den Vereinigten Staaten und um die nordafrikanischen Enklaven Spaniens, bisher ein Tor für Flüchtlinge nach Europa.

Indien zog einen drei Meter hohen Wall durch Kaschmir und errichtete einen Zaun gegen Bangladesch, während das Königreich Bhutan eine Mauer baute, um sich von Indien abzugrenzen. Andere Mauern sind rein virtuell und bestehen aus Luft-, See- und Satellitenüberwachung. So die „Howard-Linie“, die Australien gegen asiatische Flüchtlinge abschirmt. Sie ist wie die in Internierungslager im Outback ein Symbol der restriktiven Asyl- und Flüchtlingspolitik des fünften Kontinents.

Mauern sind ein Eingeständnis. Sie zeigen, dass etwas nicht funktioniert. Die Grenzbefestigung der US-Südgrenze beweist, dass die – gefühlte – Aufnahmefähigkeit der amerikanischen Gesellschaft erschöpft ist. Der amerikanische Traum: Süd- und Mittelamerikaner sollen ihn nicht mehr träumen.

Der israelische „Schutzwall“ zeigt, dass jede Hoffnung auf einen gleichberechtigten Frieden erloschen ist und dass Israel einseitig feste Grenzen festlegen und die demografische Gefahr einer muslimischen Mehrheit in dem jüdischen Staat verhindern will. Die EU-Mauern um Ceuta und Melilla beweisen, dass die Europäische Union Begriffe wie „Moral“, „Menschenrechte“ und „Wohlstand für alle“ zwar vor sich herträgt – Menschen aber, die darin ein Versprechen sehen, mit Repression und Ausgrenzung begegnet.

Mit dem Bau der Berliner Mauer gestand die DDR-Führung ein, dass der Westen eine größere Strahlkraft auf die Bürger hatte als das eigene Konzept, die eigene Gesellschaft. Die neue saudische Mauer schließlich ist ein Zeichen, dass die Regierung den Irak verloren gibt. Sie baut die Mauer, damit irakische Extremisten das Königreich nicht infiltrieren – und damit die zahlreichen eigenen Islamisten nicht im Irak ausgebildet werden. Und die Mauer markiert den endgültigen Abschied von der alten Idee, einen geeinten arabischen Staat zu schaffen, die die Politiker freilich schon lange aufgegeben haben.

Die Anlage wird sich nicht nur 900 Kilometer lang durch die Wüste ziehen, die aktuell ausgeschrieben sind. Sie soll die ganze Grenze sichern. Vom Jemen trennt bereits eine Zementröhre, die Fahrzeuge aufhalten soll. Nach saudischen Angaben soll dies den Schmuggel unterbinden, während die Jemeniten darin eine einseitige Grenzziehung sehen. Die konnte bisher nicht festgelegt werden. Saudi-Arabien will sich komplett einmauern und so die arabischen Nachbarn, in offizieller Diktion oft als „Brüder“ bezeichnet, aussperren.

Denn das ist eine der Hauptaufgaben der Mauern: das Außen aussperren und damit erst ein Innen schaffen – im Falle Saudi-Arabiens somit eine eigene Nationalität. Die saudische Mauer bestätigt einen Trend, den es seit Jahrzehnten gibt: Austausch der „Arabischen Nation“ durch Nationen in den einzelnen Staaten, die es erst seit dem Ersten Weltkrieg gibt. Die Taktik, durch Bollwerke Innen und Außen zu definieren, ist nicht neu. Schon in Ur, einer der ersten Städte der Geschichte, wurde eine mächtige, doppelte, acht Meter breite Mauer um den Tempelbezirk gezogen.

Es gab damals keine Waffe, die auch nur eine halb so starke Anlage hätte zerstören können. Aber man zeigte den Menschen außerhalb, dass sie nicht Teil der Elite ist. Und man zeigte, dass die Elite so wichtig ist, dass man übertrieben breite Mauern baut.

Heute haben die Mauern auch weitere Zwecke. So dient die Grenzbefestigung zu Mexiko als Projektionsfläche für die Darstellung von sicherheitspolitischen Theaterstücken US-amerikanischer Politiker, die beweisen wollen, wie sehr sie gegen illegale Einwanderung vorgehen. Spätestens seit 9/11 herrscht ein diffuses Sicherheitsgefühl vor, dem man eine konkrete Maßnahme entgegenstellt. Dass kaum islamistische Attentäter, die von der Regierung als größte Gefahr angesehen werden, aus Südamerika kommen dürften, ist dabei völlig nebensächlich.

Außerdem – und das dürfte noch wichtiger sein – hilft die Mauer, Arbeitsimmigranten zu kriminalisieren – und ihre Arbeitskraft billig zu halten. Denn sie können sich nicht organisieren oder gar einen gerechten Lohn respektive bessere Arbeitsbedingungen einklagen.

Im Gegenteil: Wenn der Bedarf an billiger Arbeit sinkt, können diese Kräfte leicht aufgespürt und ohne viel Federlesen abgeschoben werden. Diesem Hire and Fire fallen an der Grenze jedes Jahr bis zu 500 Menschenleben zum Opfer. Sie verdursten oder erfrieren auf ihrer Reise, werden von Grenzschützern erschossen oder, wie vermutet wird, von Mitgliedern so genannter Bürgerwehren ermordet.

Ziel der israelischen Mauer ist, wie in Amerika, die Herstellung eines Sicherheitsgefühls. Ob der „Schutzwall“ wirklich auf Dauer die Sicherheit des Landes erhöht, ist mehr als zweifelhaft. Ganz sicher aber trägt er dazu bei, die Spannungen in der Region zu verfestigen. Denn das eigentliches Ziel ist es, feste Grenzen zu schaffen. Dabei richten sich die israelischen Politiker aber nicht nach den Grenzen von 1967, die zwar nur rund 20 Prozent des historischen Palästinas beinhalten, aber dennoch inzwischen von einem Großteil der Palästinenser anerkannt sind.

Israel geht mit dem Mauerbau nicht im Geringsten auf die Interessen der Palästinenser ein. Die Mauer dient einzig und allein dem Zweck der demografischen Sicherung des eigenen Staates: Das Staatsgebiet soll möglichst stark erweitert werden, gleichzeitig soll sich der Anteil der nichtjüdischen Bevölkerung erhöhen.

Nach den Worten Scharons geht es darum, dass der Staat „jüdisch und demokratisch“ bleibt: Er fürchtete eine muslimische Mehrheit, die entweder zum Erlöschen des jüdischen Staates führen oder diesen entdemokratisieren würde, da eine jüdische Minderheit über eine palästinensische Mehrheit herrschen würde. Deswegen werden große jüdische Siedlungsblöcke, die mitten im Westjordanland liegen, durch die neue Grenzziehung dem israelischen Kernland zugeschlagen. Palästinensische Dörfer dagegen werden oft von ihrem Umland getrennt.

Und dann gibt es noch die vielen Mauern, die die Reichen vor den Armen schützen sollen, die Globalisierungsgewinner von den Verlierern. Die Mauer zwischen dem vergleichsweise wohlhabenden Costa Rica und Nicaragua ist dafür ein Beispiel oder, im kleineren Maßstab, die vielen „Gated Communities“ weltweit – Siedlungen, in denen sich Reiche aus Angst vor den Armen selbst einmauern. Die größte Mauer dieser Art wird aber das – meist körperlose – Gebilde sein, das die Festung Europa umgeben soll und nicht nur die nordafrikanischen Enklaven einzäunt. Egal ob aus Afrika, den ehemaligen UdSSR-Gebieten oder dem Nahen Osten: Flüchtlinge sollen keine Chance haben. Besser sie werden in Nordafrika interniert oder gar in der Wüste ausgesetzt, als dass sie etwas von unserem Reichtum bekommen.

Interessanterweise fing die deutsche Politik an, die Voraussetzungen für dieses Bollwerk zu schaffen, als man gerade das Gefühl hatte, alle Mauern der Welt friedlich stürzen zu können.

Das mentale Fundament der europäischen Mauer ist der Asylkompromiss von 1993, der die faktische Abschaffung des Asylrechts in dem Land der EU einläutete, das bis dahin die meisten Flüchtlinge aufgenommen hatte.

Jede große historische Mauer fiel irgendwann oder verlor ihren Sinn. Sie konnten keine Probleme lösen oder alleine die Sicherheit gewährleisten. Das chinesische Kaiserreich wurde 1644 von den Mandschuren erobert, nachdem der chinesische General Wu Sangui ihnen ein Tor geöffnet hatte. Zuvor hatten Rebellen dem letzten Ming-Kaiser die Macht entrissen, Wus Vater getötet und seine Konkubine vergewaltigt.

Auch die römischen Grenzanlagen wie der Limes in Germanien und der Hadrianswall in Britannien konnten das Imperium nicht vor dem Zerfall schützen oder gar die folgende Völkerwanderung verhindern.

So werden auch die modernen Mauern trotz aller Hightech-Elemente keine Probleme lösen. Sie werden sie verschlimmern. Stacheldraht und Beton können eine gerechte Politik nicht ersetzen, die nicht auf Ausgrenzung baut.