: In Fleisch und Blut
SUCHE Unsere Autorin wuchs in Niederbayern auf. Mit Stoßgebeten, Sonntagsgottesdienst und Erstkommunion in Weiß. Dann verlor sie ihren Glauben. Von Gott kommt sie trotzdem nicht los
Wer einmal aus der Kirche ausgetreten ist, muss ihr nicht auf ewig fernbleiben. Vier Prominente, die eine On-Off-Beziehung mit Gott führen.
■ Harald Krassnitzer: Der österreichische Schauspieler trat Ende der neunziger Jahre aus der katholischen Kirche aus. Nun überlegt er, wieder einzutreten – weil er Papst Franziskus faszinierend findet: „Der mischt diesen Verein komplett auf und bringt ihn dorthin zurück, wo er herkam.“
■ Katie Holmes: Die Schauspielerin war Katholikin und schloss sich der Church of Scientology an – wegen ihres Ehemanns Tom Cruise. Nach der Scheidung meldete sie sich bei der St.-Francis-Xavier-Gemeinde in New York City wieder an.
■ Niki Lauda: Der ehemalige Rennfahrer trat einst aus der katholischen Kirche aus, „wegen der Art und Weise, wie sie von mir ihre Steuern eintreiben wollten. Die haben mich einfach auf irgendwas Astronomisches geschätzt.“ Ende 2011 wollte er wieder eintreten – wegen der Taufe seiner Zwillinge.
■ Bodo Ramelow: Der Linken-Politiker trat 1978 aus der evangelischen Kirche aus – wegen „Gottes Bodenpersonal“. 1990 trat er wieder ein. Auch wegen „Gottes Bodenpersonal“.
VON MARIA ROSSBAUER
Fünf Minuten nachdem ich mich offiziell von meinem Glauben verabschiedet hatte, war ich davon überzeugt, dass gleich ein Lastwagen um die Ecke biegt, mich überfährt und ich auf direktem Weg in die Hölle fahre.
Es war ein kühler Tag im Juni, als ich aus der katholischen Kirche austrat. Ich glaubte schon länger nicht mehr, nun hatte ich auch den Anlass für den Kirchenaustritt gefunden. Die Deutsche Bischofskonferenz hatte das Verfassungsgerichtsurteil zum Ehegattensplitting abgelehnt. Sie sei gegen die Gleichbehandlung von Ehe und eingetragenen Partnerschaften, weil ja nur aus Ehen Kinder hervorgingen. Ich wollte nicht mehr Mitglied in einem Verein sein, der ein solches Weltbild verbreitet.
Es war eine schnelle Sache. Ich setzte mich auf einen dunklen Holzstuhl, die Frau im Amtsgericht Berlin-Neukölln machte einen Witz, dass ich mit dem Vornamen doch nicht aus der Kirche austreten könne, ich lachte kurz, unterschrieb einen Zettel – und war frei.
Dachte ich.
Aber etwas war noch da. Ich habe seit diesem Tag im Juni nicht aufgehört, in Momenten, die mir Angst machen, leise „Gott, steh mir bei!“ zu flüstern. Ich habe dann immer noch das Gefühl, dass da wirklich jemand ist, der mir beisteht. Dieser Gedanke tröstet und stützt mich. Und das, obwohl ich nicht ernsthaft glaube, dass es jemanden gibt, der über mich wacht und mir beisteht. Trotzdem kann ich das nicht abstellen.
Warum werde ich Gott nicht los?
Hat das mit meiner niederbayerischen Kindheit zu tun – den sonntäglichen Kirchgängen, den Gebeten, der Erstkommunion? Oder ist es mehr als das, steckt der Glaube an Gott vielleicht einfach in uns?
Solche Fragen verschwanden nicht und führten mich in den nächsten Wochen zu einem Religionswissenschaftler, zu einem Psychologen, zu einer Nonne – und am Ende doch wieder in die Kirche.
Meine Suche nach meinem Glauben beginnt in einem modernen grauen Gebäude in der Stuttgarter Fußgängerzone. Hier treffe ich Michael Blume, einen der wenigen Religionswissenschaftler, der die Evolution der Religiosität erforscht – den Ursprung des Glaubens. „Aus heutiger Sicht kann man klar sagen, dass sowohl Religiosität als auch Spiritualität und magisches Denken jeder Mensch in sich veranlagt hat“, sagt Blume. In seinem grauen Anzug und mit der fast randlosen Brille wirkt Blume mehr wie der Beamte, der er auch ist. Er leitet das Kirchen- und Religionsreferat in der baden-württembergischen Staatskanzlei. Um über seine Forschungen sprechen zu können, treffen wir uns im Haus der katholischen Kirche zwischen modernen Kunstwerken in einer ledernen Sitzecke.
„Liegt Glaube doch in unseren Genen“, frage ich. Der US-Genetiker Dean Hammer hatte vor zehn Jahren behauptet, ein Gottes-Gen gefunden zu haben. „Es gibt kein einzelnes Gen, das ausmacht, ob man an Gott glaubt oder nicht“, sagt Blume. Das habe sich in Untersuchungen nicht bestätigt. Er meint mit Veranlagung eher einfache kognitive Prozesse.
Blume kramt ein Blatt Papier heraus und malt darauf ein Oval und hinein eine gewellte Linie. „Was sehen Sie darin?“, fragt er.
„Vielleicht ein grimmiges Gesicht?“
Blume lächelt. Sein Experiment hat offenbar geklappt. „Wir Menschen haben eine Überwahrnehmung von Wesenhaftigkeit“, sagt er. „Es braucht wahnsinnig wenig, um ein Wesen in Dingen zu sehen.“ Der Grund für diese Veranlagung ist einfach: Sollte da tatsächlich ein Wesen sein, das etwas von uns will, ist es von Vorteil, das möglichst schnell zu erkennen. „Evolutionspsychologen sagen: Es ist zwanzig Mal günstiger, einen Busch für einen Bären zu halten, als einmal einen Bären für ein Busch“, sagt Blume. Schnell sahen unsere Vorfahren Geister im Himmel, Ahnen im Baum, durch Sprache gab es die ersten Mythen – „so entstanden die einfachsten Formen von Religion.“
Mit dieser Überwahrnehmung von Wesenhaftigkeit einher geht Furcht: Das Wehen in den Bäumen ist eine Ahnin, die beobachtet, ob du alles richtig machst. Religion hatte im Ursprung mit Angst zu tun, und auch heute noch zeigt sich in Tests: Der Glaube an unsichtbare Akteure begünstigt regelkonformes Verhalten. Es war eine Jahrtausende lange Entwicklung, sagt Blume, bis Menschen sagten: Gott ist gut.
Ich muss an meine Mutter denken. Sie erzählte mir einmal, wie viel Angst sie als Kind vor ihrem Pfarrer hatte, dass er sie ausschimpfte, wenn sie einmal sonntags nicht in der Kirche war. Für sie bedeutete katholische Kirche Angst.
Für mich bedeutete Kirche, viele Dinge zu machen, die man macht, weil alle sie so machen. Sonntag morgens zu früh aufstehen, ins Nachbardorf fahren, rein in die kalte, riesige Kirche, auf die linke Seite, wo die Frauen sitzen. Gebete, Lieder, aufstehen, hinsetzen, knien, aufstehen, knien, hinsetzen. Während der Pfarrer etwas erzählt, das ich nicht verstehe, an Fußball oder Rainer aus der Schule denken und am Rotlichtstrahler unter der hölzernen Sitzbank die gefrorenen Finger wärmen.
Aber Katholischsein war auch das selbst genähte Kleid von der Mama zur Erstkommunion, mit dem ich hübscher war als alle anderen.
Gemeinsame Rituale, sagt Blume, Totenbestattung, Ahnenkult oder gemeinsames Beten stärken den Zusammenhalt einer Gruppe. Und starke Gruppen waren evolutionär erfolgreicher – und so gab es mehr und mehr religiöse Gemeinschaften. Wegen dieser simplen, kognitiven Veranlagungen steckt also irgendeine Form von Glauben an ein höheres Wesen in so gut wie jedem von uns.
Blume verwendet für uns deshalb den Begriff Homo religiosus. Bei alledem könne aber die Evolutionsforschung Gott nie beweisen, und auch nicht widerlegen, sagt Blume. Für manche Forscher ist Gott einfach so etwas wie eine nützliche Illusion. Doch für Blume ist er mehr: Er ist evangelischer Christ, seine Frau ist Muslimin, zusammen haben sie drei Kinder – er glaubt an Gott. „Wir können auch die Existenz von Menschenrechten nicht beweisen, kein Test der Welt kann das“, sagt er. „Aber trotzdem glaube ich daran, dass sie existieren.“ Das sei für ihn ähnlich wie der Glaube an Gott: eine Entscheidung. Und dabei ist es am Ende egal, ob das die Vernunft bestätigt oder nicht. „Und es ist immerhin möglich, dass Gott existiert“, sagt Blume. „Das hatte auch Charles Darwin bis zuletzt nicht ausgeschlossen.“
Charles Darwin rang mit Gott – sein Leben lang
Blume hat ein Buch geschrieben, „Evolution und Gottesfrage – Charles Darwin als Theologe“. Darin geht es vor allem um die Gedanken, die sich Darwin über Gott und Religion gemacht hat. Darwin war studierter Theologe. Als junger Mann war er sehr fromm, selbst auf seiner großen Forschungsreise auf dem Schiff Beagle erzählte er seinen Mitfahrern aus der Bibel. Er hoffte, dass man aus der Betrachtung der Natur irgendwann Gott beweisen könne.
Doch dann wurde seine zehnjährige Tochter Anny krank. Ein Jahr lang saß Darwin jeden Tag an ihrem Bett und musste zusehen, wie sie qualvoll starb. Darwin fragte sich: Wie kann ein liebender Gott zulassen, dass ein Kind so leidet und stirbt? Nachdem Anny tot war, ging er nicht mehr in die Kirche. In seinem letzten Lebensjahr aber beschäftigte er sich wieder intensiv mit Gott.
„Darwin hat sein Leben lang mit Gott gerungen“, sagt Blume. „Ein bisschen wie sie.“ Ich bin, glaubt Blume wohl, wie Darwin in einer Art Glaubenskonflikt. Charles Darwin jedoch fand sich auf eine Art damit ab: Wie sollen wir mit unserem Säugetiergehirn so eine Frage lösen können, beschloss er irgendwann.
„Sie werden das nicht durch Logik lösen“, sagt Blume. „Es geht jetzt darum, wie Sie diese beiden Dinge, das Rationale und das Irrationale, in Ihrem Leben in Einklang bringen.“ Blume gibt mir die Hand, wünscht viel Glück und hastet zurück ins Staatsministerium.
Beim Hinausgehen beobachte ich eine alte Frau, die am Tresen im Haus der katholischen Kirche eine Nonne um Rat fragt. Sie sucht nach dem richtigen Heiligen, den sie wegen ihrer Ohrenschmerzen anbeten kann.
Einmal erzählte uns unser Religionslehrer von einer Heiligen. Sie hatte von Gott den Auftrag bekommen, einen Tyrannen zu ermorden. Mit einem Schwert unter dem Kleid schlich sie in sein Zelt und erstach ihn. Ich fragte meinen Lehrer: Wenn Gott wollte, dass der Tyrann stirbt, warum schickt er ihm keinen Herzinfarkt? Mein Lehrer sagte: „Gottes Wege sind unergründlich.“ Vielleicht waren es auch Erlebnisse wie dieses, die mich vom Glauben entfernten. Dass mir nie jemand zufriedenstellende Antworten auf meine Fragen gab.
Die Überwahrnehmung von Wesenhaftigkeit, Mythen und Traditionen – ich verstehe, wie das den Menschen früher nutzte. Aber wir leben nicht mehr in Höhlen, nicht hinter jedem Busch könnte ein Bär lauern.
Passt Religion noch in unsere Zeit, was nutzt sie uns? Der, der mir diese Fragen beantworten könnte, heißt Sebastian Murken. Er ist Professor der Uni Marburg, einer der wenigen Religionspsychologen in Deutschland. Er erforscht, was Menschen mit ihrer Religion machen – und was Religion mit Menschen macht. Ich erzähle Murken die Geschichte meines Kirchenaustritts, die Gedanken, in die Hölle zu fahren. „Daran wird deutlich, dass sie ordentlich katholisch sozialisiert worden sind“, sagt er. Er sieht „eine noch vorhandene Gottesrepräsentation“.
Murken sitzt in einer Ecke seines schmalen Büros in Bad Kreuznach. Ein kleiner, quadratischer Tisch mit Stühlen, ein großer Schreibtisch voll mit Papieren und Büchern, nebenan das mächtige, gelbe Gebäude des St.-Franziska-Stifts in Bad Kreuznach, einer Psychosomatischen Fachklinik, in der Ferne läuten Kirchenglocken.
Murken vermutet bei mir so etwas wie einen religiösen Phantomschmerz. Er sagt, man könne den Grad der Religiosität durch zwei Faktoren bestimmen. Erstens: die Bedeutung von Religion im Leben. In welchem Ausmaß bestimmt sie das, was jemand täglich macht. Der regelmäßige Kirchgang, beten, freitags kein Fleisch, solche Dinge.
„Da könnte man bei Ihnen sagen: ziemlich null, oder?“ Ja – es gibt keinen Bereich mehr in meinem Leben, den ich der Religion unterordne. „Zweitens“, sagt Murken, „der Inhalt.“ Prägt irgendetwas mein Verhalten, gibt es Glaubenssätze wie die zehn Gebote, nach denen ich mein Leben richte? „Nein“, sage ich. Ich lüge nicht, stehle nicht, respektiere meine Eltern und bringe niemanden um. Aber nicht, weil diese Grundsätze auch in den zehn Geboten stehen. Wir leben in einem Rechtsstaat. Das man Menschen nicht totschlagen soll, wissen wir auch so. Zu einem menschlichen Miteinander braucht es die kirchliche Moralkeule nicht. Das beweisen auch Studien. John Darley und Daniel Batson zeigten 1973 im Samariter-Experiment, dass nichtreligiöse Studenten genauso häufig einem scheinbar kranken Menschen helfen wie besonders fromme.
Murken nickt. „Insofern haben Sie auch keinen inhaltlichen Bezug.“ Meine Religiosität: null. Ich bin also wohl, nach Murkens Berechnung, Atheistin. So klar hatte ich das noch gar nicht gesehen. Aber natürlich, wenn ich glaube, dass Gott nicht existiert, bin ich es wohl. Irgendwie enttäuscht mich das aber doch. Mir kommt es vor, als würde ich meine Oma verraten. Von ihr stammen wohl die meisten Weisheiten und Sprüche über Gott, die noch in meinem Kopf hängen. Zum Beispiel: Im Schützengraben gibt es keine Atheisten.
Aber was bedeutet das für mein Leben? Kommen Atheisten schlechter durch schwierige Lebensphasen? „Das kann man so nicht sagen“, sagt Murken. Er habe Frauen mit Brustkrebs untersucht. Dabei sagten die religiösen darunter zwar, wie sehr ihnen der Glaube beim Durchstehen der Krankheit hilft. Faktisch aber waren die ohne Glauben auch nicht depressiver. Das Einzige, was aus empirischen Untersuchungen deutlich werde, sei, was Murken die Relevanz des negativen Glaubens nennt. Er meint damit, es gibt Formen der Religiosität, die systematisch unglücklich machen. Frauen etwa, die glauben: Den Brustkrebs schickte Gott aus Strafe, weil ich in meinem Leben so viel falsch gemacht habe – die kamen aus einer Depression nicht mehr heraus.
„Was die Substanz angeht, denke ich aber schon, dass es einen Sinn hat, dass Menschen religiös sind“, sagt Murken. Psychologisch gesehen gehe es uns nun einmal besser, wenn wir Geschehnissen Ursachen zuschreiben können. Das Fachwort dafür heißt Attribution. Wenn etwas passiert, wollen wir es erklären können. Wir wollen unsere Umwelt begreifen können.
Der Forscher fragt: „Möchten Sie glauben?“
Nun gibt es aber viel im Leben, wo das nicht klappt: Warum stirbt ein geliebter Mensch, warum bekomme ich Krebs. Es geht aber auch um Alltägliches, wie: Warum habe ich den Job nicht bekommen oder warum verliebt sich der Mann nicht in mich. Da bietet Religion eine mögliche Erklärung, und wenn es manchmal nur eine scheinbare ist, wie: Gottes Wege sind unergründlich. Es geht um das Gefühl, dass da jemand ist, der dem Erlebten einen Sinn beimisst.
Murken fragt: „Haben Sie einmal etwas erlebt, dass Sie naturwissenschaftlich nicht erklären können?“
„Ähm.“
„Wollen Sie es erzählen?“
Ich zögere – und beginne dann doch.
„Ich wusste, dass meine Schwester schwanger ist, bevor sie es wusste. Ich habe es geträumt und ihr gesagt. Sie machte einen Test und war schwanger.“
„Und wie verstehen Sie das von heute aus gesehen?“
„Ich verdränge es.“
„Sie versuchen nicht, es zu verstehen?“
„Nein.“
„Die Frage ist nun: Möchten Sie glauben? Dann könnten Sie mit diesem Erlebnis einsteigen.“ Ich könnte sagen: Ich habe etwas erlebt, das mir zeigt, es gibt etwas hinter den Dingen. Ich könnte es als Minimalbezug zu dieser anderen Seite werten. Durch meine katholische Sozialisation sei ich auch recht einfach reaktivierbar. Wenn ich glauben will.
Im Zug zurück nach Berlin starre ich aus dem Fenster in die Nacht.
Christen traten 2012 in Deutschland aus der Kirche aus
Quellen: Evangelische Kirche in Deutschland, Deutsche Bischofskonferenz
22
Prozent aller Deutschen glauben an die Hölle
Quelle: Leibniz-Institut
62
Prozent aller Deutschen hoffen, im Jenseits einem lieben Menschen wiederzubegegnen
Quelle: Chrismon
27
Mal soll Dr. Murke in einem Vortrag „Gott“ durch „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ ersetzen
Quelle: Heinrich Böll, „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“
178
Zentimeter groß ist Gott in einem Roman des Finnen Arto Paasilinna
Quelle: Arto Paasilinna, „Der liebe Gott macht blau“
1882
schrieb Nietzsche: Gott ist tot.
Quelle: Friedrich Nietzsche, „Die fröhliche Wissenschaft“
Will ich glauben? Ist es das, was mich umtreibt?
Um das zu beantworten, muss ich wohl an einen Ort, an dem geglaubt wird.
Das Kloster Karmel Regina Martyrium in Berlin-Charlottenburg. Eine Nonne der Unbeschuhten Karmelitinnen führt mich durch den kleinen Laden, vorbei an selbst gezogenen Kerzen und bunten Büchern, in die dunklen Gänge des Klosters. Claudia Elisheva gibt mir die Hand und öffnet die Tür zu einem kleinen Raum. Weiße Wände, in der Mitte ein schmaler Holztisch, vier Stühle, eine Garderobe und ein Dachfenster. Schwester Claudia Elisheva ist schwarz gekleidet, das Kopftuch sitzt auf der Höhe der Ohren, eine Hand breit sehe ich ihre Haare. Sie faltet ihre Hände auf dem Tisch, sieht mich bestimmt an. Ob das nun ein Interview werden soll oder ein geistliches Gespräch. Wohl eine Mischung, sage ich.
Dann erzähle ich. Von meinen Zweifeln an der katholischen Kirche, meinem Austritt, der Hölle, den unbewussten Gebeten. Sie sagt wenig. Manchmal erklärt sie etwas, zum Beispiel, dass man die Bibel nur im historischen Kontext verstehen kann, dass es naiv wäre, die Schöpfungsgeschichte ernst zu nehmen.
Sie erzählt, dass sie in ihrem früheren Leben Journalistin war. 17 Jahre hat sie in dem Beruf gearbeitet, hatte zuvor Chemie studiert, ihre Eltern sind beide Naturwissenschaftler.
Unser Lebenslauf ist ähnlich – könnte ich das sein, die dort, auf der anderen Seite des Tisches, sitzt? Schwester Claudia Elisheva kommt aus Hamburg. In die katholische Kirche ist sie, wie sie sagt, hineingewachsen. Auch sie hatte, wie ich, Sinnfragen und glaubt, dass sich in der katholischen Kirche vieles ändern muss. Sie ist aber dennoch geblieben, ganz bewusst. „Weil ich glaube, dass es Veränderung nur von innen heraus gibt“, sagt sie. Und gerade würden sich viele Dinge wandeln, vor allem jetzt, mit dem neuen Papst. „Es ist jetzt wieder eine Zeit des Aufbruchs für die katholische Kirche“, sagt Claudia Elisheva. „Und es ist doch schön, da dabei zu sein.“ Der Regen klopft leicht auf das Dachfenster.
Die katholische Kirche hat auch mich geprägt. Vielleicht habe ich den leichten Weg gewählt, denke ich. Und flüstere es wohl auch, denn Claudia Elisheva sagt: Wer sich Gedanken macht, geht nie den leichten Weg.
Aber muss ich wirklich in der katholischen Kirche bleiben, damit dort etwas passiert? „Warum haben Sie sich entschieden, Nonne zu werden“, frage ich. Sie überlegt. „Es ist nicht so, dass ich das gesucht habe. Wenn überhaupt, würde ich sagen: Ich bin hier, weil er das so wollte.“
Als Kind fand sie Klöster faszinierend. Als Erwachsene zog es sie immer wieder dort hin, um Kraft zu tanken. Die Gedanken, in einen Orden einzutreten, wuchsen, aber ihr schwebte auch vor, was fast jeder junge Mensch will: Partnerschaft, Liebe, Kinder, Karriere. Und sie hatte Zweifel, ob sie das klösterliche Leben schafft. Schweigen und beten, vor allem: schweigen. Irgendwann wurde der Zug an ihr stärker. Also suchte sie ein Kloster, das zu ihr passen könnte, fand dieses in Berlin, eines, das in der Spiritualität von Teresa von Ávila lebt, einer starken Frau aus dem 16. Jahrhundert, von der Claudia Elisheva begeistert ist. Sie fragte die Schwestern, ob sie mitleben darf, regelte ihr Leben „draußen“, gab ihren Beruf auf und trat ein. Seit zehn Jahren lebt sie nun in dieser Gemeinschaft mit elf anderen Schwestern. Ohne eigenes Geld, von Spenden. Der Regen prasselt nun laut auf das Oberlicht, die Wolken verdüstern für einen Moment den Raum. Sie müsse nun los, zum Abendlob, sagt Claudia Elisheva.
Ob ich mitdarf, frage ich.
Die Kirche ist karg, graue Wände, grauer Boden, schlichter Altar. Die Bänke sind zu einem U angeordnet, an den Seiten sitzen die Schwestern. Es kommen noch ein Dutzend andere Besucher, und kaum sitze ich, ist alles wieder da: das harte Holz, was habe ich darauf gesessen und gekniet, Schmerzen in den Knien, kalter Po. Jeden Sonntag, in aller Frühe. In der Messe spreche ich mit, die Gebete, die Fürbitten, das Glaubensbekenntnis, alles. Automatisch, ohne darüber nachzudenken. In der Predigt erzählt der Pfarrer von den Menschen in der Ukraine. Mir kommt es vor, als ob ich zum ersten Mal bei der Predigt zuhöre. Zur Kommunion stellen wir uns alle im Kreis auf. Der Pfarrer und zwei Schwestern verteilen die Hostie, der Kelch mit Wein wird herumgereicht. Ich esse also den Leib Jesu Christi und trinke sein Blut. Ich weiß heute, dass das nicht wahr ist. Aber auch, wie es funktioniert: rechte Hand unter die linke und dem Pfarrer entgegenstrecken. Die Hostie nicht kauen, lutschen.
Es könnte sein, sagte Michael Blume, dass ich mich am Ende dieser Suche entscheide, zu springen. In den Glauben. Oder weg davon. Oder dass ich mein Leben in der Schwebe halte. Dass ich lerne, manches unbeantwortet zu lassen.
Beim Rausgehen lege ich mein Liederbuch zurück, knickse in Richtung des Altars und bekreuzige mich. Claudia Elisheva drückt fest meine Hand. Es hat mich gefreut, sagt sie. Mich auch.
Draußen ist es dunkel. Auf dem Platz vor der Kirche klebt der Regen, ein paar Lichter im Boden leuchten, der Wind weht leicht. Die katholische Kirche kann also auch weltoffen sein, so wie Claudia Elisheva.
Aber Springen? Nein. Ich will nicht zurück.
Mag sein, dass die katholischen Kirche in meinen Wurzeln liegt. Aber ich bin herausgewachsen.
Vielleicht ist das auch gar nicht so schlecht, dieses Leben in der Schwebe.
■ Maria Rossbauer, 33, ist sonntaz-Autorin. Und hier ist ein Ei