: Für die kleinen Leute
VON BARBARA DRIBBUSCH
Wie viele Leute zum heutigen Protesttag kommen werden – zu dieser Frage wollte der Deutsche Gewerkschaftsbund gestern „keine Schätzung abgeben“, erklärte DGB-Sprecher Markus Franz. Der Grund: Nicht ist peinlicher als eine zu hohe Erwartung, die dann von der Wirklichkeit nach unten korrigiert wird. Auch ob die Debatte über die „Unterschichten“ den Arbeitnehmervertretern nutzt, vermag man bei den Gewerkschaften nicht zu sagen. Denn die Bevölkerungsschichten, die gern als „kleine Leute“ bezeichnet werden, und jene Gruppen, die jetzt als „Unterschichten“ durch die Medien geistern, wollen oft gar nichts miteinander zu tun haben.
In fünf bundesdeutschen Städten ruft der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) heute zu Protesten und Kundgebungen gegen die Sozialpolitik der schwarz-roten Koalition auf. Motto: „Das geht besser. Aber nicht von allein!“ Der Deutsche Gewerkschaftsbund protestiert gegen die Rente mit 67, gegen die Gesundheitsreform und die Mehrwertsteuererhöhung. Gleichzeitig fordern die Gewerkschafter einen gesetzlichen Mindestlohn.
Die Kosten der Gesundheitsreform würden vor allem „von den kleinen Leuten getragen“, hatte DGB-Chef Sommer im Vorfeld erklärt – und dazu als Beispiel nicht nur Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger genannt, sondern auch „Busfahrer“ und „Krankenschwestern“. Dies sind Arbeitnehmergruppen, die wenig gemein haben mit Jugendlichen aus Migrantengettos in Bremen und 55-jährigen Langzeiterwerbslosen in Anklam. Ist eine Solidarität zwischen diesen Gruppen überhaupt möglich? Und gehen die wirklich Abgehängten auf eine Gewerkschaftsveranstaltung?
„Es könnte sein, dass die Leute nicht mehr wütend sind, sondern resigniert“, sagt Franz, „möglicherweise glauben viele auch nicht mehr an eine politische Veränderbarkeit.“
Die DGB-Forderungen nützen dabei den vom Abstieg Bedrohten – teilweise aber auch den schon Abgehängten: In der Gesundheitsreform etwa sind die Arbeitnehmervertreter dafür, dass auch Kapitaleinkünfte zur Beitragsbemessung herangezogen werden und dass sich die Privatkassen mehr am Finanzausgleich zwischen den Krankenversicherungen beteiligen. In der Rentenfrage plädieren sie gegen einen Anhebung des Renteneintrittsalters, weil dies vor allem die Beschäftigten in körperlich und psychisch stark belastenden Tätigkeiten treffe. Das vom DGB geforderte Sofortprogramm für 50.000 neue Ausbildungsplätze würde auch den Chancenärmeren helfen.
Vor zwei Jahren gingen aus Protest gegen die Agenda 2010 in mehreren deutschen Städten 500.000 Leute auf die Straße. Vor zehn Jahren demonstrierten 350.000 Menschen in Bonn gegen die Sozialpolitik der Kohl-Regierung. Der heutige Demonstrationstag wird zur Nagelprobe, ob sich ein breiter glaubwürdiger Protest gegen Schwarz-Rot derzeit überhaupt noch organisieren lässt.
Termine: In fünf Städten starten heute gewerkschaftliche Demonstrationen gegen Sozialabbau, die mit Kundgebungen enden. Die Hauptkundgebung mit dem DGB-Chef, Michael Sommer, findet in Stuttgart auf dem Schlossplatz statt. Dort spricht Sommer um 13.10 Uhr.