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Archiv-Artikel

„Niemand braucht Bahnhof Stuttgart 21“

Der Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim hält den Neubau des unterirdischen Hauptbahnhofs für eine der teuersten Fehlplanungen aller Zeiten. Das 2,8-Milliarden-Euro-Projekt sei unwirtschaftlich und werde mehr Zeitverluste als heute bringen

INTERVIEW THORSTEN DENKLER

taz: Herr Monheim, wer braucht „Stuttgart 21“?

Heiner Monheim: Provokativ gesagt: So wie geplant niemand. „Stuttgart 21“ ist ein Bahnhofsprojekt von gestern und nicht ausgelegt für den Schienenverkehr von morgen. Stattdessen wird durch drastische Reduzierung der Gleise und Bahnsteige für extrem viel Geld ein neuer Flaschenhals erzeugt.

Die Planer von „Stuttgart 21“ behaupten das Gegenteil: Die Untertunnelung des Innenstadtbereiches werde den Zugverkehr besser fließen lassen.

Da irren die Planer. Die Kapazität des Stuttgarter Hauptbahnhofs wird für den Nah- und Regionalverkehr reduziert. In Europa fahren aber 80 Prozent der Züge im Nahverkehr. Dagegen ist der Verkehr über 400 Kilometer Distanz minimal. Hier wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Profitieren wird von „Stuttgart 21“ nur der Fernverkehr. Allerdings in einem so geringen Maße, dass das die Investitionen kaum rechtfertigen kann.

Die Brüsseler Verkehrsplaner sehen Stuttgart als störendes Nadelöhr auf der geplanten Hochgeschwindigkeitsstrecke Paris–Bratislava. Darum fördern sie das Projekt.

Die Eurokraten schwärmen von den TEN, den transeuropäischen Achsen. Dabei übersehen sie aber die kleinen Grenzverkehre in Europa. Wir brauchen vor allem S-Bahnen und Regionalbahnen in allen Grenzräumen, weil die Regionen über die Grenzen zusammenwachsen.

Ministerpräsident Günther Oettinger sagt, ein Durchgangsbahnhof sei moderner als ein Kopfbahnhof.

Das kann ich nicht nachvollziehen, denn es spricht nicht allzu viel gegen Kopfbahnhöfe, wenn man moderne Wendezüge einsetzt wie heute fast überall. Mit moderner Logistik sind Kopfbahnhöfe äußerst leistungsfähig. Und bei den Kunden übrigens sehr beliebt, weil man nicht so viel Treppen steigen muss.

Und was ist mit dem Zeitverlust?

Der einzige verbleibende Zeitnachteil ist, dass die Züge einen Teil der Strecke zweimal befahren müssen. Das kostet je nach Fahrtstrecke zwischen fünf und zehn Minuten pro Zug. Nach „Stuttgart 21“ werden sich aber für viele Regionalverbindungen große Wartezeiten beim Umsteigen ergeben. Denn sie passen wegen der begrenzten Kapazität unter der Erde nicht mehr in den integralen Taktknoten. Für die Gesamtheit der Verkehrsbeziehungen erbringt „Stuttgart 21“ mehr Zeitverluste als heute.

Die Bahn hat 400 Millionen Euro in die Planung von „Stuttgart 21“ gesteckt. Soll Bahn-Chef Mehdorn das Geld abschreiben?

Alles andere hieße: Augen zu und durch. Es gibt gute Gründe, das Projekt zu beerdigen. Die Immobilienpreiserwartungen haben sich als Luftnummern erwiesen. Bahn und die Stadt kriegen ja nicht mal die seit langem freien Flächen des alten Güterbahnhofs am Markt abgesetzt.

Bundesverkehrsminister Tiefensee mahnt einen nachvollziehbaren Kosten-Nutzen-Plan an. Warum gibt es den noch nicht?

Es ist bei Großprojekten üblich, dass die Kosten klein- und die Nutzen großgerechnet werden. Alle deutschen Schienen-Großprojekte refinanzieren sich nicht, sind also unwirtschaftlich. Damit sich etwa die Neubaustrecke Köln–Frankfurt rechnet, müssten zehnmal mehr Fahrgäste sie nutzen, oder die Preise müssten zehnmal höher sein. Beides ist völlig unrealistisch.