piwik no script img

Archiv-Artikel

Der grün-schwarze Sieger

Tübingens neuer Oberbürgermeister Boris Palmer verkörpert den neuen Grünen in einer postideologischen Gesellschaft. Sein Wahlsieg beruht auf Personality, konservativer Unterstützung und der glaubhaften Wiederbelebung der Ökologie

BORIS PALMER: „Tübingen soll in die Spitzengruppe der Umweltstädte. Wo Stadtplaner hingehen, um sich Ideen zu holen“

VON PETER UNFRIED

Große Wahlsieger in Deutschland fliegen nach einer kurzen Nacht am Montag in aller Frühe nach Berlin. Dass es auch bei Boris Palmer so war, sagt einiges über die Bedeutung seiner Wahl zum Oberbürgermeister von Tübingen. Als einer der ersten Gratulanten hatte Parteivorsitzender Reinhard Bütikofer am Sonntagabend angefragt, ob die Grünen den neuen Star in der Hauptstadt präsentieren könnten.

Palmers Antwort: „Ich komme“.

Dass Tübingens Grüner Landtagsabgeordneter im zarten Alter von 34 Jahren die baden-württembergische Universitätsstadt gegen eine Amtsinhaberin erobert hat, darf noch nicht einmal als Sensation gelten; dass er es im 1. Wahlgang geschafft hat, dagegen schon.

Palmer holte 50,4 Prozent der Stimmen, Titelverteidigerin Brigitte Russ-Scherer (SPD) bekam 30,2 Prozent. Die CDU hatte keinen eigenen Kandidaten nominiert. Dass es sich auch um eine Abwahl von Russ-Scherer gehandelt hat, kann man im Schwäbischen Tagblatt nachlesen. Als sie im Wahlkampf damit argumentierte, dass der junge Palmer gar keine Erfahrung mit der Verwaltung habe, antwortete Palmer, dafür habe die Verwaltung ja genug Erfahrung mit ihr.

Aber da ist mehr: Boris Palmer verkörpert wie auch Freiburgs Oberbürgermeister Dieter Salomon einen Grünen-Typ jenseits alter Klischees, Generationen, Ideologien oder Lyrik aus Claudia Roths Autobiografie. Kein abgebrochener Taxifahrer, sondern Abitur mit 1,0, Mathematikstudium, den Laptop immer im Armknick, alles wird sofort bis hinters Komma durchkalkuliert. Wenn er Geschichte weiterträgt, dann familiäre. Seinen verstorbenen Vater Helmut Palmer nannte man den „Remstal-Rebell“. Er kandidierte über 200-mal im ganzen Land, gewählt wurde er nie. Ihm, aber davor der Mutter Erika, galten Palmers erste Worte nach dem Sieg.

Manchmal gehen ihm die Gäule durch, hatten die Erfahrenen gerne mal gemurrt. Diesmal nicht. In einem präzise geplanten Wahlkampf hat ihn unter anderem auch Stuttgarts CDU-Altbürgermeister Manfred Rommel (für die Älteren) unterstützt oder Stuttgarts 1. Bürgermeister Michael Föll (CDU) – für die Jungkonservativen. Die Botschaft war: kommt nicht nur von hier, nämlich dem nahen Geradstetten, Palmer kann es. Das wurde so überzeugend kommuniziert, dass der junge Grüne selbst sechs der acht ländlichen Wahlbezirke gewann. „Alle haben geunkt, er sei zu jung, dann gehe es noch gegen eine Frau und die SPD“, sagt Rezzo Schlauch, Exfraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag, da sei das Ergebnis jetzt „grandios“.

„Die Konservativen brauchen eine Brücke, um einen Grünen zu wählen“, sagt Schlauch. Das Neue: „Diese Brücken werden jetzt breiter gebaut – mit Hilfe der Ökologie.“ Zweitens: „Wenn die Konstellation da ist, müssen wir auch gegen die SPD losgehen und dürfen keine falschen Rücksichten nehmen.“ Schlauch gehört zur fast historischen Garde baden-württembergischer Landtagsabgeordneter, die einst auf Geheiß von Joschka Fischer loszog, um den Bund zu erobern. Als OB-Kandidat in Stuttgart scheiterte er 1996 an der Verweigerung der (chancenlosen) SPD. Palmer dagegen vollzog bereits einen umstrittenen Paradigmenwechsel, als er 2004 in Stuttgart nach dem 1. Wahlgang mit 21,5 Prozent zurückzog und aus inhaltlichen Gründen den CDU-Amtsinhaber empfahl. „Palmer ist ein möglicher Schwarz-Grüner. Er beweist damit die Pluralität grüner Identitäten und erweitert die Option grüner Machtbeteiligung“, sagt Daniel Cohn-Bendit, der Chef der EU-Grünen. Die zweite Identität verkörpere Tübingens grüner MdB Winfried Hermann, das ist die des schwäbischen Mini-Ströbele.

Im Gemeinderat strebt Palmer „breite Bündnisse“ an. Strategie: „Versöhnen statt spalten.“ Die Grünen stellen zwar die stärkste Fraktion mit bisher 13 von 48 Sitzen, doch das ergibt auch mit der CDU keine Mehrheit. Und eine Rätin ist Palmer noch in der Wahlnacht an die SPD verloren gegangen (bisher 8). Die SPD gilt traditionell als leicht beleidigt. Auch im Stuttgarter Landtag pflegte man eher ein Nicht-Verhältnis. Das Gute an der Wahl? „Die ganze Fraktion freut sich, dass wir Palmer jetzt im Landtag los sind“, sagte eine SPD-Landtagsabgeordnete. Ach, die seien sauer, weil sie in der Verkehrspolitik nicht gegen Palmer ankamen, glaubt Grünen-Faktionschef Winfried Kretschmann. Er gehörte übrigens nicht zu den zahlreiche Parteifreunden, die Palmer abgeraten hatten und die Wahl als eine zwischen Niederlage und Abstellgleis definierten. „Ein OB in Baden-Württemberg ist kein Abstellgleis“, sagt Kretschmann, „ sondern ein Sprungbrett für den, der springen will.“ Palmer war der Jüngste seiner Fraktion, aber schon Vize, die Lücke sei „schwer zu schließen“. Aber: Uni sei neben Schule ein zweites Schlüsselthema der Zukunft: „Es ist von großer Bedeutung, dass wir Grünen jetzt in drei Unistädten den OB stellen.“

Die Universitätsstadt Tübingen (85.000 Einwohner) kann man über eine gloriose Vergangenheit definieren („Hier kotzte Goethe“), aber auch über die Zukunftstauglichkeit. Tübingen hat den Umbau zur Dienstleistungsgesellschaft vorangetrieben und durch eine kleine Infrastruktur auch kleine Kosten, sodass die Stadt (knapp 30 Millionen Euro Schulden) relativ gut dasteht. Man ist damit deutlich beweglicher als etwa das hoch verschuldete Freiburg.

Wann immer der Umwelt- und Verkehrspolitiker Palmer – stets mit Helm – über die Neckarbrücke radelte, beschäftigte ihn weniger der nahe Hölderlin-Turm als der fehlende Radweg. Der wird kommen, sagt er. Im Wahlkampf hat er 80 Fahrräder in der Stadt aufstellen lassen, die nicht abgeschlossen wurden und die jeder benutzen konnte. Slogan: „Mit Palmer rollt’s besser.“ Das steht für lokal. Er hat ein Preview von Al Gores Klimafilm „Eine unbequeme Wahrheit“ gezeigt. Das steht für global.

„Tübingen ist in vielen Bereichen noch keine Umweltstadt, ich will, dass wir in der Spitzengruppe mitspielen“, sagt Palmer. Zum Beispiel: Solaranlagen auf dem Dach sind in manchen Teilen der Stadt nicht erlaubt. „Das kann man ändern“, sagt Palmer. Er denkt auch an einen neuen Ökostadtteil. Tübingen soll eine Stadt der kurzen Wege werden, und ein Ort, an dem künftig „Stadtplaner hinkommen, um sich Ideen zu holen“.

Sagt man: Sie sind ja ganz schön ehrgeizig, Herr Palmer?

Antwortet Boris Palmer: „Ja.“

Für Daniel Cohn-Bendit ist die Wahl von Palmer „der Beweis, dass in bestimmten Städten eine ökologische und regional verwurzelte Position absolut mehrheitsfähig ist“. Nun gilt es die ganz große Frage zu beantworten: Wie kann man aus diesem Willen einer absoluten Mehrheit in der echten Welt eine ökologische und soziale Politik machen?

Man muss wirklich gespannt sein.