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Archiv-Artikel

Lyon spiegelt seine Seele an der Wand

FASSADENKUNST Rund 180 bemalte Hauswände machen Frankreichs drittgrößte Stadt zu einer Open-Air-Galerie. Die Lyoner Gruppe Cité de la Création und ihre Idee

Tipps für Citybummler

Die Künstlergruppe: www.cite-creation.com, auf Deutsch www.creative-stadt.de (mit Download „Weg der Bilder“)

Führungen: Office du Tourisme, Place Bellecour, Tel. (00 39) 4 72 77 69 69, www.lyon-france.com

Infos: Atout France, Zeppelinstr. 37, 60325 Frankfurt am Main, Tel. (09 00) 1 57 00 25 (mind. 0,49 Euro/Min.), www.franceguide.com, www.rhonealpes-tourismus.de

Musée urbain: Tony Garnier, 4 rue des Serpollières, Tram T 2 bis Bachut, Tel. 4 78 75 16 75, www.museeurbaintonygarnier.com, Eintritt: 7 Euro Euro mit Audioguide auf Deutsch

Hotel: Axotel Perrache Drei-Sterne-Hotel mit Wandmalerei, 12 rue Marc-Antoine Petit, www.hotel-lyon.fr/perracheyon

Lichterfest: Vom 8. bis 11. Dezember herrscht Volksfeststimmung. Kostenlose Lichtinstallationen mit Musik setzen Plätze, Kirchen und Monumente farbenfroh und manchmal schräg in Szene. Wer alle Lichtshows von Künstlern und Studenten sehen möchte, folgt der fröhlich schwatzenden Menge durch die Stadt. Das Lichterfest zieht etwa vier Millionen Besucher im Jahr an, die Gelegenheit für Weihnachtseinkäufe zwischen Schattentheater, leuchtenden Marionetten und Fassadenlichtkunst. Das Fest hat einen religiösen Ursprung im Marienkult, das spürt man besonders am 8. Dezember: Die Bewohner stellen als Dankeschön für Maria, die sie einst vor Pest und Krieg bewahrte, Kerzen in Gläschen (lumignons) auf ihre Fensterbänke. www.fetedeslumieres.lyon.fr/

Buchtipp: Von unserer Autorin Petra Sparer ist „Lyon“ im Reise Know-How Verlag erschienen, mit GPS-genauem Cityfaltplan, 144 S., 9,80 Euro

VON PETRA SPARER

Lyon, Ecke Quai Saint Vincent 49 und Rue de la Martinière 2: Gelb leuchtet das Eckhaus am Saône-Ufer gegenüber der Altstadt. Warum stehen hier so viele Menschen auf den Balkonen?

Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass sie alle Prominente sind: die Brüder Lumière, die in ihrer Fabrik im Stadtteil Monplaisir mit dem heutigen Musée Lumières das Kino erfanden; der Flugpionier Antoine de Saint-Exupéry; Joseph-Marie Jacquard, der Erfinder des Lochkartensystems für Webstühle. Im Erdgeschoss steht Paul Bocuse mit hoher Kochmütze vor einer Beaujolais-Weinstube. Bernard Lacombe, Symbol des Aufstiegs von Olympique Lyonnais, als Passant im Fußballtrikot. Und im Schaufenster kann man sich die dickste luftgetrocknete Lyoner Wurst aussuchen. Auf dem Dach schultert Filmregisseur Bernard Tavernier gerade die Kamera.

Eine 800 Meter im Quadrat bemalte Fassade – die „Fresque des Lyonnais“ ist Lyons bekannteste Wandmalerei. Abends wird sie in der Stadt mit dem ersten systematischen Beleuchtungsplan angestrahlt wie die Kirchen, Brücken und Renaissancehäuser. Marie-Louise Maugat, Fremdenführerin des Office du Tourisme, spricht gut deutsch. Sie kennt die Geschichte jeder einzelnen der 30 Hauswandpromis vom römischen Kaiser Claudius bis zu dem Puppenspieler, der den französischen Kasper Guignol erschuf.

„Sie spiegeln das Leben in Lyon und stiften Identität“, sagt die Fremdenführerin. Kinder interessiert eher der Lyoner Löwe. Er steht auf seinen Hinterbeinen am Haus gegenüber, Quai Saint Vincent 44. „Keine Sorge, er beißt nicht“, lächelt Marie-Louise. Gern übersetzt sie auch die Zitate von der Hauswand am Saône-Ufer Ecke Rue de la Platière. „La Bibliothèque de la Cité“ heißt das Gemälde: 500 Bücher, einige aufgeschlagen, andere in Regalen, alle von Autoren aus der Region Rhônes-Alpes.

Die Reise zu den Murs peints in Lyonist aber auch ohne Führung spannend. Mit Metro, Tram und Elektrobus. Oder mit den städtischen Leihfahrrädern, die an 340 Vélo-Stationen bereitstehen. Eine Reise wert ist auch die Serie aus sieben Bildern „Voyage dans la ville“ (98 avenue Lacassagne). Kutschen, von Pferden gezogene Tramwagen auf der Place Bellecour, der Funiculaire (die Seilbahn) und insgesamt 200 Personen zeigen die Entwicklung der öffentlichen Verkehrsmittel.

Alle Werke der seit 1978 aktiven Künstlergruppe Cité de la Création kann man sich in Lyon unmöglich ansehen. Entscheidungshilfen gibt das PDF „Weg der Bilder“ (von der Website).

Halim Bensaïd, algerischer Abstammung, war von Anfang an dabei. Wie die anderen elf Gründungsmitglieder besuchte er Lyons Hochschule für Schöne Künste. Dort lernte man viel über Perspektive und Illusionsmalerei (Trompe l’Oeil). „Es ist althergebrachtes Wissen von der Renaissance bis zum Zeitalter der gemalten Filmkulissen. Caravaggio zum Beispiel war für uns ein großes Vorbild“, sagt Halim.

„Wir waren hungrig auf ein kollektives Abenteuer im öffentlichem Raum“

DER KÜNSTLER HALIM

Vor allem aber wollte die Gruppe die Kunst aus ihrem Elfenbeinturm auf die Straße holen und vielen Menschen zugänglich machen. „Wir waren hungrig auf ein kollektives Abenteuer im öffentlichem Raum, der uns nicht gehört“, sagt Halim. Immer mehr Designer und Fassadengestalter schlossen sich der Gruppe an. Lyon ist heute so etwas wie ihr Schaufenster.

Von ihrem Hauptsitz im Parc de Chabrières im Vorort Oullins gründete sie Filialen in Quebec, Potsdam, Jerusalem, Moskau, Japan und China. Die Gruppe realisierte Wandfresken in Berlin Weißensee und Teltow. In Schanghai entstand ihr größtes Wandgemälde: auf 5.000 Quadratmeter am Carrefour Wuning im Distrikt Putuo.

Lyons größte Wandmalerei (1.200 Quadratmeter) und Halims Lieblingswerk führt ins einstige Viertel der Seidenweber (canuts) La Croix Rousse. Es bringt Farbe an die fensterlose Wand eines tristen sechsstöckigen Mietshauses (Boulevard des Canuts/Rue Denfert Rochereau). Kinder versuchen hier manchmal die Treppenstufen hochzugehen, so echt sieht das Bild aus. Die gemalte Autowerkstatt und die Bank zählen zu den Sponsoren der „Mur des Canuts“, die dargestellten Menschen sind Bewohner des Viertels. 1997 konnte das Bild nach einem Wasserschaden nach zehn Jahren endlich erneuert werden.

„Die Bewohner liebten es und unterstützten uns dabei“, erinnert sich Halim. Da viel Zeit vergangen war, ließen die Künstler die Figuren an der Wand mitwachsen: „Die Frau mit dem Buch auf der Treppe und der Mann mit dem Fahrrad und dem Kind auf dem Arm waren in der ersten Version noch Kinder.“ Das Bild lebt.

„Für uns ist eine Hauswand wie die Haut der Bewohner“, erklärt Halim. Die Künstlergruppe kümmert sich nicht nur um die Genehmigungen und die Finanzierung ihrer Projekte, die Bewohner des Viertels haben Mitspracherecht. Sie stehen Modell, beteiligen sich an der Wahl der Farben und der Motive.

Alle Werke der seit 1978 aktiven Künstlergruppe Cité de la Création kann man sich unmöglich ansehen

Ein Highlight jedes Lyon-Besuchs ist das Musée Urbain Tony Garnier im Quartier der Etats-Unis. 14 Jahre dauerte die Realisierung der 25 Wandmalereien in dieser multikulturell bewohnten Siedlung mit sozialem Wohnungsbau aus den 1930er Jahren. „Wir hatten ein wenig Angst, dass unsere Bilder hier mit Graffiti übersprüht würden“, erzählt Halim. Was aber nicht geschah. Die Bewohner kooperierten. Ihr tägliches Umfeld bekam Farbe, weckte Aufmerksamkeit.

Architekt Tony Garnier schüttelt auf dem Viehmarkt die Hand von Bürgermeister Edouard Herriot. Ab 1905 war dieser Bürgermeister sein Großauftraggeber. Weitere Wandbilder zeigen Visionen der arbeiterfreundlichen Cité Idéale, die Tony Garnier weit über Lyon hinaus bekannt machte. 1991 finanzierte die Unesco Fresken von sechs Künstlern aus Mexiko, Russland, den USA, Ägypten, der Elfenbeinküste und Indien. Der einstige soziale Brennpunkt wurde zu einer Attraktion. Die Open-Air-Galerie verzeichnet mehr als 20.000 Besucher im Jahr.

Ein Augenblick der Zeitreise in einer fiktiven U-Bahn, eine durch Lichttechnik in Szene gesetzte optische Illusion. Partnerstädte seit 50 Jahren – dies gab den Anlass für ein gemeinsames Projekt der Cité de la Création Lyon mit ihrer deutschen Tochtergesellschaft Creative Stadt. Das Bild „Reise in Raum und Zeit“ in der Frankfurter U-Bahn Konstablerwache zeigt die Börsen beider Städte, das Frankfurter Museumsuferfest und das Lichterfest, das Lyon im Dezember verzaubert.

Am Bahnsteig warten die Brüder Lumière und Goethe. Ach ja, die Sponsoren aus beiden Städten sitzen im Zug.