: Experiment und Distanz
KRITISCHE THEORIE Eine rationale Erklärung für das Irrationale am Faschismus fanden sie nicht. Doch die Frankfurter Schule steht nicht nur für graue Theorie. Die Vielfalt der Methoden, mit denen sie Sozialforschung betrieb, ist immer noch vorbildlich
Nach Jahrzehnten des linken Aktionismus scheint das Bedürfnis nach systematischer Kritik wieder gewachsen. Viele sind der vulgärmarxistischen Affekte überdrüssig, und so ist es nicht überraschend, dass es zu einer neuen Lektüre des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS) kommt. Emil Walter-Busch hat eine lesenswerte „Geschichte der Frankfurter Schule“ geschrieben, die zur rechten Zeit kommt.
Der Autor, ein renommierter Soziologe, wurde in frühen Jahren von Friedrich Pollock gefördert und promovierte 1969 bei Theodor W. Adorno. Anders als die umfangreichen Arbeiten von Rolf Wiggershaus oder Detlev Claussen, die sich eher zur fortgeschrittenen Lektüre anbieten, eignet sich das Buch gut zur Einführung. Es liefert einen Überblick über die Institutsgeschichte mit einer anschließenden Skizze von Max Horkheimers Konzeption einer kritischen Sozialforschung. So wird das Grundanliegen der Institutsarbeit deutlich: die Entwicklung einer materialistischen Sozialphilosophie.
Walter-Busch betont die marxistischen Wurzeln gerade der ersten Generation kritischer Theoretiker, die sich aber durch den Sieg des Faschismus in Europa gezwungen sahen, revolutionäre Gewissheiten preiszugeben. Ihre Kenntnis der Psychoanalyse verhalf ihnen zu realistischeren Einschätzungen als den sozialistischen und kommunistischen Parteien, und die Kritik an der Durchdringung der Gesellschaft mit Bürokratie sorgte für Distanz zum sowjetischen Herrschaftsmodell.
Die Versuche dieser theoretischen Bewältigung des Zeitgeschehens finden sich als „Faschismusanalysen und Demokratieerfahrung“ prägnant dargestellt, worunter vor allem die Auseinandersetzung zwischen Friedrich Pollock und Franz Neumann um die Form der nationalsozialistischen Gesellschaft zusammengefasst wird. Walter-Busch tritt dem Vorwurf entgegen, Adorno et al. hätten sich auf Theorie beschränkt. Vor allem im Exil führte die Unzufriedenheit des Instituts mit der eigenen empirischen Arbeit zur Öffnung gegenüber den amerikanischen Methoden der Sozialforschung. Mit den „Studien zum autoritären Charakter“ und dem „Gruppenexperiment“ plante man, aus europäisch-qualitativen und amerikanisch-quantitativen Erhebungsmethoden eine fruchtbare Synthese zu bilden, was sie jedoch laut Walter-Busch nicht war.
Abschließend widmet sich der Autor den diversen Verzweigungen der Kritischen Theorie infolge der Zerwürfnisse im Exil. Da Mehrdeutigkeit für ihn bereits zu den Grundgedanken der Kritischen Theorie gehört, verzichtet er in dieser Darstellung auf eine Wertung. Deutlich wird aber, dass gerade die Heimkehrer in Deutschland eher vorsichtig mit weiteren revolutionären Prognosen blieben. Dass sie sich dem Aufbau einer Gesellschaft nach dem offenen amerikanischen Modell widmeten, hatte auch mit ihrer Angst als Überlebende zwischen Mördern und Mitläufern zu tun.
Zwar ist das Kapitel etwas trocken geraten, doch bleibt das Fazit des Autors interessant, dass die Kritische Theorie sich dazu eigne, den Blick für die Unzulänglichkeiten und Grenzen der Sozialforschung zu schärfen, weil sie an einer rationalen Erklärung des Nichtrationalen gescheitert sei.
Neben den Ereignissen und Theorien um das IfS stellt das Buch auch dar, wie Sozialforschung in Deutschland nach 1945 wieder etabliert werden sollte. Damit führt Walter-Buschs Buch in die frühe bundesrepublikanische Vergangenheit. Aus Unverständnis für die bildungsbürgerliche Lebenswelt der nach Frankfurt zurückgekehrten Professoren verachteten viele in Deutschland auch deren Kritik. Diese interessante Episode streift der Autor aber leider nur noch. VOLKER WEISS
■ Emil Walter-Busch: „Geschichte der Frankfurter Schule. Kritische Theorie und Politik“. Fink, München 2010, 262 Seiten, 19,90 Euro