: Du bleibst draußen
ARBEIT Wer länger als ein Jahr keinen neuen Job findet, gilt als „Langzeitarbeitsloser“, quasi unvermittelbar. Das Stereotyp täuscht
■ ist 55 Jahre alt, seit Juni 2013 im Ver.di-Bundesvorstand verantwortlich für den Bereich Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Sie ist Mitglied der CDU und u. a. Mitglied im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit.
Langzeitarbeitslos“ ist, wer „ein Jahr und länger arbeitslos“ ist, so regelt es Paragraf 18 im Dritten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB III). Schon rein sprachlich sendet der Begriff ein Alarmsignal an Erwerbslose ebenso wie an ihre Umwelt: „Langzeitarbeitslos“, das klingt wie „Ladenhüter“ oder „Brot vom Vortag“.
Es scheinen Bilder von Menschen auf, die viele Jahre aus dem Arbeitsleben ausgeschieden sind, die ihre beruflichen Kompetenzen längst verloren haben, die am Rande der Gesellschaft stehen – Charakterisierungen, die für einen Teil derjenigen zutreffen mögen, die statistisch als Langzeitarbeitslose erfasst werden, aber keineswegs für alle. Das Ladenhüter-Image schürt Ressentiments: Langzeitarbeitslose – nein danke!
Böswillige Zweiteilung
67 Prozent der Betriebe, die keine Erfahrung mit der Beschäftigung von „Langzeitarbeitslosen“ haben, sind nicht bereit, bei der Besetzung freier Stellen Bewerber_innen in Betracht zu ziehen, die mehr als ein Jahr lang ohne Job waren. Eine IAB-Studie macht die monatsscharfe Zweiteilung sichtbar: Nur ein Drittel der Betriebe wäre bereit, Langzeitarbeitslose bei einer Neueinstellung zu berücksichtigen, fast die Hälfte aber (48 Prozent) würde Arbeitslosen eine Chance geben, die weniger als ein Jahr lang ohne Job sind (IAB-Kurzbericht 9/2013). Vorurteile zementieren den Unterschied, tatsächliche Erfahrungen sprechen eine andere Sprache: Die Hälfte der Betriebe, die Langzeitarbeitslose bei Einstellungen berücksichtigen, bewertet deren Zuverlässigkeit und Arbeitsmotivation als gut oder sehr gut.
Mit dem Ende des zwölften Monats ohne Job verwandelt sich der Arbeitslose begrifflich zum Langzeitarbeitslosen, gefühlt zum Problemfall und meist verliert er auch den Anspruch auf Arbeitslosengeld. Ab dem 13. Monat erhalten „Langzeitarbeitslose“ im Regelfall Leistungen nach dem SGB II („Hartz IV“), für die Vermittlung und Betreuung ist dann nicht mehr die Agentur für Arbeit, sondern das Jobcenter zuständig. Diese Unterschiede vertiefen die Unterscheidung in Arbeitslose erster und zweiter Klasse.
Ver.di-Erwerbslosenausschüsse haben die Stigmatisierung, die mit dem Fallbeil des 13. Monats entstanden ist, wiederholt kritisiert. Statt einer Zweiteilung des Arbeitsmarkts in „normale“ und „Langzeit“-Arbeitslose ist eine teilhabeorientierte Arbeitsmarktpolitik aus einer Hand nötig, die sorgsam differenzierend auf Barrieren und Potenziale im Einzelfall schaut.
Frauen trifft es besonders oft
Sorgsame Wahrnehmung individueller Potenziale heißt auch: Aufmerksamkeit für strukturelle Chancenunterschiede zwischen Frauen und Männern. Bei Frauen endet die Arbeitslosigkeit durchschnittlich nach knapp 40, bei Männern nach 34 Wochen. Der Anteil der „Langzeitarbeitslosen“ an den Arbeitslosen liegt bei den Frauen über 37 Prozent, fast 10 Prozent über dem der Männer. Die jetzt für Langzeitarbeitslose geplante Ausnahme vom gesetzlichen Mindestlohn schafft also besonders große Schlupflöcher zulasten von Frauen; die erhofften positiven Effekte des Mindestlohns auf Schließung der Entgeltlücke werden unterminiert.
Die geübte Gleichsetzung von „Langzeitarbeitslosigkeit“ mit „Minderleistung“ hat mentale Beschäftigungsbarrieren entstehen lassen, die unverzüglich abgebaut werden müssen. Das Bundesarbeitsministerium allerdings setzt die problematische Zweiteilung fort, ja: Die Trennung zwischen erstem und zweitem Jahr der Arbeitslosigkeit wird weiter vertieft. „Rentenpaket“ und „Tarifpaket“ versäumen die Chance, diskriminierende Regelungen für „Langzeitarbeitslose“ abzuschaffen und fügen, nicht nur im Mindestlohngesetz, neue Diskriminierungen hinzu.
Die erste Enttäuschung gab es beim „Rentenpaket“: Die im SGB II geregelte Zwangsverrentung Langzeitarbeitsloser bleibt unangetastet. Langzeitarbeitslose werden weiter mit 63 Jahren zwangsweise in Rente geschickt, obwohl die erzwungene Frühverrentung für die Betroffenen meist direkt in die Altersarmut führt. Ihre typischerweise niedrigen Renten werden durch Zwangsabschläge nochmals gekürzt, ihre Arbeitsmarktteilhabechancen weiterhin beschnitten.
Die zweite böse Überraschung im „Rentenpaket“ entstand durch die Berechnung der 45 Jahre, die für eine abschlagsfreie Rente mit 63 gefordert sind. Hier unterscheidet die Regierung zwischen dem ersten und dem zweiten Jahr der Erwerbslosigkeit, unabhängig davon, ob die Jahre, um deren Anrechnung es geht, nach dem jeweils geltenden Sozialrecht Pflichtbeitragszeiten waren oder nicht.
Mindestlohn wirklich für alle
Last but not least verschärft das Mindestlohngesetz die Spaltung zwischen Arbeitslosen erster und zweiter Klasse: Für „Langzeitarbeitslose“, die länger als ein Jahr arbeitslos waren, soll der gesetzliche Mindestlohn im neuen Job in den ersten sechs Monaten nicht gelten. Schwarze Schafe unter den Betrieben werden sich nun auf Karussell-Modelle spezialisieren, „Langzeitarbeitslose“ sechs Monate lang unter Mindestlohn beschäftigen, dann entlassen und frühestens im Folgejahr wieder einstellen, wenn das Kriterium „Langzeitarbeitslosigkeit“ neu erfüllt ist. Dass ein gesetzlicher Mindestlohn auf diese Weise Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt, ist Teil einer eingebauten Drehtür-Automatik, die nur jene Propheten erfreuen kann, die schon immer davor gewarnt haben, dass ein gesetzlicher Mindestlohn quasi naturgesetzlich die Langzeitarbeitslosigkeit verschärft.
Noch ist es Zeit umzusteuern. Rentenpaket und Mindestlohngesetz können und müssen im parlamentarischen Verfahren korrigiert werden. Ver.di und die DGB-Gewerkschaften erwarten, dass im Rentenpaket die Zwangsverrentung von Langzeitarbeitslosen abgeschafft wird, so dass 63-Jährige nicht länger zwangsweise aus dem Arbeitsleben heraus- und in die Altersarmut hineingedrängt werden.
Wir fordern ein Mindestlohngesetz ohne Ausnahmen für Langzeitarbeitslose und ohne Diskriminierung. Es geht den Gewerkschaften um eine neue Ordnung des Arbeitsmarktes, die Übergänge im Lebenslauf absichert und Exklusion überwindet: eine teilhabeorientierte Arbeitsmarktpolitik aus einer Hand. EVA M. WELSKOP-DEFFAA