Das Licht geht aus

KRISE Einigeln oder öffnen? Wie ein Rückfall des Christentums auf sich selbst liest sich ein neuer Band über christliche Erinnerungsorte

Wer weiß eigentlich noch, dass es beim Martinstag nicht vor allem um Laternen geht?

AUS BERLIN PHILIPP GESSLER

Es ist etwas gewöhnungsbedürftig, wenn erwachsene, meist in Ehren ergraute Menschen in einer Kirche „rabimmel, rabammel, rabumm“ singen. Und das voll Inbrunst. Insgesamt elf Martinslieder erklangen am Donnerstagabend in der ehrwürdigen Französischen Friedrichstadtkirche, dem „Französischen Dom“ am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte. „Laterne, Laterne. Sonne, Mond und Sterne“, sang das bildungsbürgerliche Publikum, und: „Ich geh mit meiner Laterne.“ Das Ganze war eine Buchvorstellung der besonderen Art – und wahrscheinlich ein Menetekel über die Zukunft des Christentums in Deutschland.

An diesem Martinsabend, da selbst im gottlosen Berlin Hunderte Kinder mit Lampions und „rabimmel, rabammel“ umherzogen, stellte der angesehene C. H. Beck Verlag im Französischen Dom eine 800 Seiten fette Schwarte vor: „Erinnerungsorte des Christentums“. Und schon der schimmernde Titel zeigte die Ambivalenz dieses großen Unterfangens namhafter Intellektueller katholischer und evangelischer Herkunft: Muss nicht vergangen sein, an das man sich erinnert? Müssen sich die Christen hierzulande ihrer zentralen Orte und Symbole zwischen Buchdeckeln vergewissern, da die Erinnerung sonst vergeht?

Wahrscheinlich wären solche Fragen etwas weit hergeholt, wenn derzeit nicht vor allem in katholischen, aber teilweise auch in evangelischen Kreisen der Hauptstadt das Wort „Krise“ so sehr die Runde machte – und immer wieder von wichtigen und meist klugen Köpfe gerade des politischen Katholizismus in Hintergrundgesprächen gesagt wird: Wir stehen vor einer Wegscheide, nicht zuletzt in Folge des immensen Vertrauensverlusts wegen der Missbrauchsfälle. Entweder zieht sich die Kirche zurück in eine Wagenburg der wenigen Frommen – oder sie reformiert und öffnet sich, um wieder den Anschluss an die Gesellschaft zu kriegen. Nikolaus Schneider, der diese Woche gewählte höchste Repräsentant des deutschen Protestantismus, warnte jüngst, dass sich in der Bundesrepublik ein „kämpferischer Atheismus“ ausbreite. Und der EKD-Ratsvorsitzende ist alles andere als ein christlicher Fundi. Diese Woche wurden neue Informationen über die hohen Zahlungen des Staates an die Volkskirchen bekannt. Der Wind weht den Kirchen derzeit ziemlich ins Gesicht.

Wohl auch deshalb zeigen sich die beiden Herausgeber der „Erinnerungsorte“, Christoph Markschies und Hubert Wolf, für die Zukunft ihrer Kirchen nicht sehr optimistisch. Markschies ist (evangelischer) Kirchenhistoriker und war bis vor kurzem Präsident der Humboldt-Universität Berlin, Wolf ist (katholischer) Professor für Kirchengeschichte. In der Einleitung zu ihrem Buch schreiben sie düster, den katholischen Jahrhunderttheologen Rahner zitierend: „Deutschland ist, wie Karl Rahner es bereits in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts formuliert hat, zu einem Missionsland mit ‚christlichen Relikten‘ geworden, allen Konzepten einer ‚Wiederkehr der Götter‘ zum Trotz.“ Wolf, wie Markschies ein mehrfach ausgezeichneter und durchaus liberaler Theologe, legte am Donnerstagabend zwischen all den Martinsliedern bei diesem Gedanken noch mal nach. Man habe das Buch auch deshalb gemacht, sagte er, da bei den hiesigen Christen „Erinnerungskulturen abbrechen“. Wer weiß denn eigentlich noch, dass es beim Martinstag nicht vor allem um Laternen und eine fette Gans geht, sondern um den Bischof und Asketen Martin von Tours, der sich von einem Soldaten zu einer Art Pazifist wandelte?

Das Buch, das 45 so hochkarätige Autoren wie Kardinal Kasper aus Rom oder den früheren EKD-Ratschef Wolfgang Huber versammelt, ist insofern bezeichnend: Es kann zugleich als Analyse des Rückfalls des Christentums auf sich selbst gelesen werden – wie als ein Symptom dieses Einigelns in sein Bildungsbürgertum. So ist es zwar durchaus lehrreich und amüsant, wenn Wolf und Markschies die katholische und evangelische Sicht auf den Martinstag beschreiben. Und auch sonst findet sich in dem Buch vieles, was man als Lesegenuss bezeichnen kann. Insgesamt aber wirkt das Werk wie ein Schwanengesang auf die christliche Leitkultur, die langsam in diesem Land zu verwehen scheint. Man kann das beklagen, wie Markschies und Wolf es, trotz aller Selbstironie, tun. Oder man kann es achselzuckend hinnehmen. Vielleicht mit einem „rabimmel, rabammel, rabumm“.

■ Christoph Markschies/Hubert Wolf (Hrsg.): „Erinnerungsorte des Christentums“. München 2010, 800 Seiten, 38 Euro